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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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Chrysanthemen auf dem Tresen gekommen waren. Natürlich nicht. Die Leute achteten nicht auf solche Dinge. Sie achteten auf überhaupt nichts. Alle fühlten sich so entsetzlich sicher ...
    Die Leute achteten nicht auf ihre Umgebung, widerliche, selbstgefällige Arschlöcher. Sie bemerkten nicht, wenn sich ihr Umfeld veränderte, sie wollten nicht einmal wissen, woherdie Blumen stammten, die plötzlich in ihrer Nähe auftauchten wie leise Warnungen. Es fiel ihnen auch nicht auf, wenn sie angestarrt wurden, in der S-Bahn, auf der Straße, an der Kasse im Supermarkt. Und es machte ihnen nichts aus, wenn man sie berührte. Die Vorstellung schien ihr ungeheuerlich, auch wenn sie wusste, dass es sich tatsächlich so verhielt. Den meisten Menschen machten die Berührungen fremder Hände nicht das Geringste aus. Finger, die sie streiften, nahmen sie ebenso wenig wahr wie einen Blick, der auf sie fiel. Sie schüttelte den Kopf. Eigenartig, dachte sie wieder. Wann ist das geschehen? Wann haben wir die Intimsphäre abgeschafft? Hatte es denn nicht Zeiten gegeben, in denen Berührungen, in denen körperliche Nähe ausschließlich engen Freunden vorbehalten gewesen waren? In denen Mindestabstände gegolten hatten? Armlängen? Bis hierher und nicht weiter ...
    Ich weiß nicht, was Sie wollen, der Junge tut doch gar nichts. Er steht den ganzen Tag dort am Fenster und sieht zu mir herüber. Von morgens bis abends. Andauernd.
    Irgendwann verliert er die Lust.
    Wann?
    Sie schluckte. Ihre Kehle war trocken wie ein Reibeisen, aber sie sah sich außerstande, nach dem Glas Orangensaft zu greifen, das sie sich vor wenigen Minuten eingegossen hatte. Früher, in einer anderen Zeit, hätte man mich vielleicht verstanden, dachte sie. Aber heute? Wie machte man den Menschen klar, dass man nicht angetastet werden wollte, in einer Gesellschaft, die keine Grenzen kannte?
    Wann, verdammt noch mal? Wann hört das endlich auf? Beruhigen Sie sich.
    Sie nahm das Kissen, das neben ihr auf dem Stuhl lag, und drückte es sachte an sich. Es fühlte sich nicht wie eine Katze an, das hätte sie nicht ertragen. Keine Katzen, keine Gesellschaft,keine Spaziergänge. Wenn jemand das Kissen aufschlitzte, würde sie einfach ein neues kaufen ...
    Man kann doch aber dem Kind nicht verbieten, am Fenster zu stehen.
    Er ist kein Kind.
    Die graue Katze, die ein paar Mal draußen im Garten herumgestrichen war, gehörte sicher zu einem der Häuser hinter dem Hügel. Sie waren von ihrem Haus aus nicht zu sehen, aber es war nicht allzu weit bis dorthin. Ein Katzensprung. Wortwörtlich ...
    Ist das deine Katze?
    Sie zuckte zusammen. Ihre Augen suchten die Tür zur Diele. Zum Wohnzimmer. Von dort gähnte ihr regenschweres Dämmerlicht entgegen, das sie in sich aufzusaugen schien, je länger sie es betrachtete. Er ist nicht hier. Er kann nicht hier sein. Du bist allein. Du bist immer allein. Sie fühlte, wie mit einem Mal Tränen an ihren Wangen herunterliefen. Tränen, die sie sich ebenso wenig erklären konnte wie das Zittern in ihrem Arm. Eine wie sie weinte nicht. Nicht einmal in den eigenen vier Wänden.
    Sie hatte die Katze vor ein paar Wochen entdeckt, an einem Morgen wie diesem. Ihre Fingernägel pulten am Etikett des Honigglases. Es war eine besonders hübsche Katze gewesen, und sie hatte sie zunächst eine Weile gewähren lassen. Erst als sich die Katze zum zweiten Mal für längere Zeit vor ihre Terrassentür gesetzt und miaut hatte, war sie zum Schreibtisch hinübergegangen und hatte nach dem Briefbeschwerer gegriffen, dessen Scherben noch immer überall verstreut lagen ...
    Schwärmerei. Jeder macht so eine Phase durch.
    Es ist nicht einfach nur eine Phase.
    Das legt sich wieder. Niemand tut so etwas sein ganzes Leben lang.
    Sie hatte sich genau umgesehen, bevor sie das Fenster geöffnet und den Briefbeschwerer hinausgeschleudert hatte. Katzen waren kluge Tiere.
    Die Graue war nie mehr zurückgekommen ...
     
     
     
    »Indian Summer?«
    Winnie Heller riss ihre Augen vom waffelartigen Muster des Fahrstuhlbodens los, zu dem sie sich geflüchtet hatten. »Bitte?«
    Hermann-Joseph Lübke, der seinen massigen Körper zu ihr in den Lift gedrängt hatte, als sich die Türen eben wieder schließen wollten, zeigte auf einen Punkt irgendwo über ihren Brauen. »Ihre Haarfarbe.«
    »Kupfergold.«
    Der Leiter der Abteilung Spurensicherung runzelte die Stirn. »Sind Sie sicher?«
    »Ja«, entgegnete sie knapp und wandte demonstrativ den Blick ab. Sie war sich sicher. Nicht,

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