Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
Vom Netzwerk:
wie ihre Mutter zu lange, um sich noch irgendetwas vormachen zu können. »Es geht um deine Schwester.«
    Also doch! Winnie Heller spürte, wie sie zu zittern begann. Instinktiv ging sie zum Aquarium hinüber und legte die Hand gegen die kühle Scheibe. Dahinter tanzten ihre Fische. Neues Leben. Nachwuchs. »Was ist mit ihr?«
    Gisela Heller antwortete mit einer Gegenfrage: »Bist du in letzter Zeit mal dort gewesen?«
    »Natürlich«, entgegnete Winnie kalt. Und im Stillen ergänzte sie: Im Gegensatz zu euch besuche ich Elli regelmäßig. Ich fahre zu ihr, wann immer es meine Zeit erlaubt, und wenn ich neben ihrem Bett einen Blumenstrauß finde, der von euch sein könnte, werfe ich ihn in den Müll.
    »Und ist dir an Elli nichts aufgefallen?«
    »Nein.« Es war eine glatte Lüge. Aber die einzige Möglichkeit.
    »Ihre Ärzte haben uns letzte Woche kontaktiert.« Gisela Heller zögerte. »Sie glauben, dass deine Schwester bald eine andere Form von Betreuung brauchen wird.«
    »Was soll das heißen?«
    Ihre Mutter gab einen seltsamen Laut von sich. Es klang wie ein Lachen, aber Winnie Heller war sich eigentlich sicher, dass sie nicht lachte. Hinter dem blau schimmernden Glas schwebte der werdende Vater John Sinclair wie schwerelos dahin. »Soweit ich verstanden habe, sprachen sie von intensivmedizinischer Betreuung.«
    »Was?« Sie musste sich verhört haben.
    Gisela Heller schluckte hörbar, bevor sie sagte: »Sie denken, dass Elli bald in ein Stadium kommt, in dem sie nicht mehr aus eigener Kraft atmen kann, weshalb wir . . . «
    »Das ist nicht wahr«, fiel Winnie ihrer Mutter ins Wort. »Das kann nicht wahr sein. Ich war bei ihr. Erst gestern. Es geht ihr gut.«
    »Nein«, war alles, was ihre Mutter sagte.
    Sie überlegte, ob sie einfach auflegen sollte, aber irgendetwas hielt sie zurück. Sie waren noch nicht fertig miteinander. Nicht heute.
    »Wir müssen nun entscheiden, wie es weitergehen soll, und...«
    »Wieso ihr?«, schrie Winnie in einem irrwitzigen Anfall plötzlicher Wut in den Hörer. »Was, verdammt noch mal, habt ihr damit zu tun?«
    »Wir sind ihre Eltern.« Gisela Hellers Stimme flatterte. Trotzdem schien sie wild entschlossen zu sein, dieses Gespräch mit Vernunft und Sachlichkeit zu Ende zu bringen. »Wir müssen entscheiden, ob wir ihr diesen Weg zumuten wollen oder ob es nicht besser wäre . . . «
    »Oh, ich verstehe, darauf läuft die ganze Sache also hinaus!« Winnie fühlte einen dumpfen Schmerz hinter ihrem Brustbein. Als ob sich dort etwas festbrennen würde. Die Innenflächen ihrer Hände waren schweißnass. Unmissverständliche Vorboten eines drohenden Nervenzusammenbruchs, die ihr nur zu vertraut waren. »Ihr wollt sie endgültig loswerden, stimmt’s?«, flüsterte sie tonlos. Ihre Lippen waren plötzlich zum Zerspringen trocken. »Es reicht euch nicht, dass ihr sie in dieses verdammte Heim abgeschoben habt. Jetzt wollt ihr auch noch die Erinnerung an sie auslöschen, damit euch das Bild eurer versehrten Tochter nicht behelligt, während ihr euren beschissenen Golfkurs auf Teneriffa genießt. Ist es nicht so?« Sie rang nach Atem. »Ihr habt anstandshalberein paar Jahre gewartet, aber sie hat euch nicht die Freude gemacht, zu sterben. Und jetzt wollt ihr sie unter dem Deckmantel der Humanität umbringen. Aber so läuft das nicht.« Sie merkte, dass sie beim Sprechen gespuckt hatte. Mechanisch wischte sie sich mit dem Ärmel ihres Sweatshirts über die Lippen, während sich in ihrem Kopf ein vertrautes Bild manifestierte. Ein Hospiz. Eine dunkelhaarige Frau in einem schmucklosen Krankenbett. Terri Schiavo. Wie lange war das jetzt her? Ein Jahr? Zwei? Sie wusste es nicht genau, aber sie erinnerte sich an jedes Detail, das damals über die Medien verbreitet worden war. Der Ehemann hatte vor Gericht darum gekämpft, die Magensonde, die seine im Wachkoma liegende Frau fünfzehn Jahre lang ernährt hatte, entfernen zu lassen, und er hatte recht bekommen. Die Erlaubnis, seiner selbständig atmenden Frau Nahrung und Flüssigkeit vorzuenthalten. Die Genehmigung, zuzusehen, wie sie starb. Es hatte vierzehn qualvolle Tage gedauert, bis Terri Schiavo endlich verdurstet war. Vierzehn Tage, während deren Ärzte aller Couleur öffentlich darüber diskutiert hatten, ob die Patientin etwas von ihrem langsamen Sterben mitbekam, und wenn ja, wie viel. Für Winnie Heller symbolisierte dieser Fall das Äußerste, was Menschen einander anzutun fähig waren. Den absoluten Gipfel der Barbarei. »Glaub

Weitere Kostenlose Bücher