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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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scheiden. Er überlegte gerade, ob es Sinn machte, ihr nachzugehen, oder ob er sie lieber eine Weile in Ruhe ließ, als sie wieder aus der Dunkelheit des Wohnzimmers auftauchte. Sie trug einen dicken Wollpullover über ihrem Nachthemdund hatte die festen Schuhe angezogen, die sie sich vor ein paar Jahren für einen Wanderurlaub in den Pyrenäen zugelegt und seither nie mehr getragen hatte.
    »Was soll das?«, fragte er. »Was hast du vor?«
    »Mein Mann wünscht unserer Tochter ein Vogelhaus zu bauen«, entgegnete sie todernst. »Und ich erinnere mich dunkel, vor ein paar Jahren einem Standesbeamten und – was noch schwerer wiegt – einem Priester versprochen zu haben, diesem meinem Mann in guten wie in schlechten Zeiten zur Seite zu stehen.« Sie griff nach einem der beiden Dachteile, die Verhoeven bereits zur Hälfte mit daumendicken, halbierten Ästen beklebt hatte. »Tja, ich schätze, Vogelhäuser fallen in die Kategorie schlechte Zeiten. Zumindest, wenn man sich dafür die halbe Nacht um die Ohren schlagen muss. Aber was soll’s. Versprochen ist versprochen. Also: Wo gehört das hin?«
    Er reichte ihr eine Flasche mit Holzleim. »Da hinten liegen die restlichen Äste. Sie sind bereits auf eine Länge zugeschnitten, sodass du sie eigentlich nur aufzukleben brauchst.«
    »Fein«, sagte sie und machte sich an die Arbeit. »Wie geht es Ulla?«
    »Sie ist ziemlich fertig.«
    Sie nickte. »Das bist du auch, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest.«
    »Ich habe Angst, dass sie Dummheiten macht«, sagte er, ohne auf ihren sorgenvollen Einwand einzugehen. »So wie damals.«
    »Hendrik!« Sie sah ihn an. »Du bist nicht für sie verantwortlich. Weder für Ullas Seelenheil noch für Karls Nachlass.«
    Er nahm sich das nächste Seitenteil vor und wunderte sich einmal mehr über die Selbstverständlichkeit, mit der seine Frau Grovius beim Vornamen nannte. Zugleich fühlte er etwas wie Wut in sich aufsteigen. Oder war es Enttäuschung?
    Es gab so viele Menschen, von denen Grovius sich hatte duzen lassen. Dass er selbst nie zu diesem Kreis von Menschen gehört hatte, war in gewisser Weise symptomatisch für ihre Beziehung, die zu keinem Zeitpunkt eine Beziehung auf gleicher Augenhöhe gewesen war. Allerdings hatte ihn das bislang nicht gestört. Es war ihm nicht einmal aufgefallen. Er ließ sein Bauteil sinken und sah seine Frau an. »Weißt du, was mich von all den Dingen, die Holger jetzt einfach auf den Müll schmeißt, am meisten schmerzt?«
    Silvie unterbrach ihre Arbeit und wandte sich ihm zu. »Was?«
    »Das verdammte Scheiß-Projektil aus Grovius’ Brieftasche.«
    Zu seiner Überraschung lachte sie laut auf. »Und was würdest du damit machen?«
    »Was meinst du?«, fragte er irritiert.
    »Wenn Holger dir das verdammte Scheiß-Projektil geben würde, was würdest du damit anstellen?« Sie trat einen Schritt näher und legte ihm ihre zarten, lebendigen Hände auf die Schultern. »Würdest du es in die Nachttischschublade legen? Zu Karls Uhr?«
    Er lächelte. »Du denkst, ich sollte sie tragen?«
    »Nein, ich denke, dass Karl sie dir geschenkt hat, damit du sie in einen Safe legst, sodass sie nur ja keinen Kratzer abbekommt.« Sie öffnete einen Knopf seines Hemds und schob ihre Hand unter den Stoff. Er fühlte die Wärme ihres Körpers. »Das, was zählt, ist hier drin«, flüsterte sie. »Alles andere ist nicht der Rede wert.«
    Er erwiderte ihren Kuss, während im äußersten Osten bereits die Vorboten der Dämmerung den Horizont in eine hellere Form von Tintenblau tauchten. »Wir könnten das Vogelhaus auch morgen bauen«, flüsterte er, indem er den Duft ihres Haars in sich aufsog.
    »Oh nein«, versetzte sie. »Der Winter kommt, vergiss das nicht.«
    »Scheiß auf den Winter«, sagte er und hob sie hoch.
    »Glaubst du, unsere Tochter hat diese Werbung gesehen?«, fragte sie auf der Treppe. »Du weißt schon, die, wo Mike Krüger dieses mordsmäßig riesige Vogelhaus zimmert. Falls sie das nämlich gesehen hat, wird sie von unserer Version definitiv enttäuscht sein.«
    »Unsere Tochter sieht alles«, antwortete Verhoeven.
    »Na, das will ich aber nicht hoffen«, lachte Silvie und zog die Schlafzimmertür hinter ihnen zu.

Dienstag, 24. Oktober 2006
    Susanne Leistner wurde genau eine Woche nach ihrem gewaltsamen Tod beigesetzt. Wieder war es ein strahlender Herbsttag, sonnig und kühl. Die Natur leuchtete in den reinsten Farben, und die Luft war frisch und klar wie Quellwasser. Doch sobald man aus der

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