Der Beutegaenger
massierte etwas von der kühlenden Flüssigkeit in ihr Knie, das heiß und geschwollen war, aber nicht schmerzte. Und seltsamerweise musste sie dabei schon wieder an Muriel denken. An die Wellen, die am Ufer auslaufen. Zu ihren Füßen. Der Kies, auf dem sie sitzen, ist warm von der Sonne. Sie fühlt Muriels Blick auf ihrem Gesicht. Und vor ihnen die Wellen. Wieder Wasser. Türkisblau und funkelnd. Das Meer ...
Was ist los mit dir? Hat dich mal jemand ... ?
Das Unausgesprochene verschleiert Muriels Augen, und sie kann fühlen, wie die andere die Luft anhält vor Angst, eine Antwort zu erhalten, mit der sie nicht fertig wird. Sie fühlt auch ihr eigenes Kopfschütteln. Fremd. Als gehöre es nicht zu ihr. Eine Marionette, das ist sie. Eine gefühl- und willenlose Holzpuppe, an deren Fäden ein anderer zieht. Ganz, wie es ihm gefällt.
Nein.
Sicher nicht?
Die Erleichterung, die in den beiden Worten liegt, macht sie zornig. Nicht so.
Wie dann?
Anders.
Warum klingt das so bitter?
Bitter? Ich ...
Da war dieser Moment gewesen, ein winziger Augenblick, in dem die Tür offen gestanden hatte. Einen Spalt nur, aber ein Spalt genügte. Wer wüsste besser als sie, wie viel schon der winzigste Spalt ausmachen konnte? Wenn es mir gelungen wäre, dachte sie. Wenn ich damals ...
Geh bitte.
Was?
Geh weg und komm nie wieder.
Aber... Oh nein, sie gibt sich nicht so einfach zufrieden. Nicht Muriel. Das ist einer der Gründe, weshalb sie sie so ... Ich sagte, du sollst mich in Ruhe lassen.
Warum denn?
Hau einfach ab. Ich will nichts von dir. Du bist nicht mein Typ. Verstanden?
Sie blickt ihr nach. Fühlt ihre Enttäuschung. Den Knacks, den ihre barsche Abfuhr Muriels an und für sich recht ausgeprägtem Selbstbewusstsein beigebracht hat. Sie war eine Zerstörerin. Dabei wäre es am Ende vielleicht gar nicht so schwer gewesen. Ich möchte dich nicht in Gefahr bringen. Warum hatte sie diesen einen Satz nicht über die Lippen gebracht? Weil er die Bitte nach einer Erklärung nach sich gezogen hätte, zwangsläufig? Weil sie ihre Muriel nicht beschmutzen wollte, infizieren mit dem Keim des Verderbens?
Sie lehnte den Kopf gegen das kühle Leder ihres Chefsessels und wusste, sie würde niemals aufhören, über diese Frage nachzudenken.
»Also doch ein Serientäter?«
Burkhard Hinnrichs rieb seine Stirn, bis sie sich rötete.
»Es sieht ganz danach aus«, sagte Winnie Heller. »Beide Frauen wurden mit einem Schal erdrosselt. Beide haben keine nennenswerte Gegenwehr geleistet, woraus wir wohl schließen können, dass der Angriff des Täters überraschend kam und dem Mord nicht etwa ein Streit vorausging oder Ähnliches.« Sie blickte kurz zu Verhoeven hinüber, der mit ausdrucksloserMiene in seiner Kaffeetasse rührte. Sie hatte bei Tamara Borgs Leiche auf ihn gewartet, zusammen mit Dr. Gutzkow, die ihre Ausführungen bei seinem Eintreffen bereitwillig wiederholt hatte. Trotzdem schien er irgendwie sauer zu sein, und sie fragte sich, ob ihr eigenmächtiges Verhalten der Grund dafür war. Er verzieht nie das Gesicht, dachte sie. Er hat überhaupt keine Mimik. Nur dieses glatte Lächeln. Vielleicht hat er vor, faltenfrei zu bleiben, bis er hundert ist. Ich mag ihn nicht, schoss es ihr durch den Kopf. Vielleicht beneide ich ihn auch. Sie sah wieder sein Gesicht an, was sie gefahrlos tun konnte, denn er starrte noch immer in seine Kaffeetasse hinunter. »In beiden Fällen hat der Mörder die Frauen nach der Tat an einen abseitsgelegenen Ort geschleift«, fuhr sie fort, als ihr auffiel, dass Hinnrichs sie erwartungsvoll anblickte, »wo er ihre toten Körper mit einem Messer traktiert hat.«
»Dieselbe Waffe wie im Fall Leistner?«
»Scheint so.« Sie nickte. »Festlegen wollen sie sich natürlich erst nach einer eingehenden Untersuchung.«
»Was sagt die Spurensicherung?«
»Allem Anschein nach nicht viel zu holen.«
»DNA?«
Sie schüttelte den Kopf. »Auf den ersten Blick sieht’s nicht danach aus.«
»So eine verdammte Scheiße«, fluchte Hinnrichs und starrte aus dem gekippten Fenster in den fahlen Novemberhimmel hinaus. »Was ist das nur für ein krankes Arschloch?«
»Das Opfer war alleinstehend«, setzte Winnie Heller ihren Bericht fort, indem sie nach der Thermoskanne in der Mitte des Tisches angelte. »Die Frau wohnte etwa drei Gehminuten vom oberen Ende der Alten Stiege entfernt. Sie ist offenbar bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren, und aller Wahrscheinlichkeit nach benutzte sie
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