Der Beutegaenger
als die Pathologin den Kopf der Leiche zur Seite drehte. Ins Licht. Das Gewebe rund um die Augen war von tiefen Stichen fast vollkommen zerfetzt. Etwas Milchigweißes war von dort über die Wangen der Toten gelaufen und in ihrem Haar versickert, das unter dem harten Novemberhimmel stumpf und strohig wirkte. Ob es aus ihren zerstörten Augen gequollen war, vermochte Winnie Heller nicht zu sagen, dennoch musste sie unwillkürlich an eine von diesen Madonnen denken, die angeblich blutige Tränen weinen. »Sehen Sie das hier?« Zu Winnie Hellers blankem Entsetzen angelte Dr. Gutzkow eine sorgfältig verschlosseneKanüle aus ihrem Koffer und streckte sie ihr entgegen. »Glaskörperflüssigkeit«, erklärte sie unsentimental. »Aber wofür halten Sie das Dunkle?«
Winnie kniff die Augen zusammen und betrachtete die dunklen Pünktchen, die sich an der Oberfläche der Flüssigkeit abgesetzt hatten. »Mohn?«
Dr. Gutzkow stieß einen zufriedenen Seufzer aus. »Na, das ist doch meine Rede. Ob wir richtig liegen, wird die Laboranalyse zeigen.«
Winnie Heller sah sich nach den dichten Sträuchern um, die sie vom Fußweg der Alten Stiege trennten. Ein dunkler, leerer Ort. »Warum ist sie eigentlich so schnell gefunden worden? Wieder jemand mit Hund?«
Die Pathologin schüttelte den Kopf. »Ein Anwohner, der heute früh auf dem Weg zur Arbeit hier vorbeimusste, hat sich über das Fahrrad gewundert. Er hat sich das Ding ein bisschen genauer angesehen, und als er dabei auf die Papiere des Opfers stieß, hat er zu suchen begonnen.«
»Tj a, Glück gehabt«, murmelte Winnie Heller, indem sie wieder die Tote ansah. Multiple Schnittverletzungen. Ausgestochene Augen. Eine blutige Chrysantheme in der Bauchhöhle einer jungen Mutter. Und dennoch, nach ihrem ganz persönlichen Empfinden hatten diese Morde bei aller offensichtlichen Brutalität etwas seltsam Klinisches. Eine immense Distanz, dachte sie. Etwas, das den Eindruck von Desinteresse vermittelt. Von Langeweile beinahe. Das hier sind keine Verbrechen aus Leidenschaft, dachte sie, sondern kühle, wohlkalkulierte Arrangements. Du tötest diese Frauen, doch du interessierst dich nicht für sie. Aber wenn du dich nicht für sie interessierst... Sie runzelte die Stirn ... warum tust du ihnen dann all diese furchtbaren Dinge an?
Sie schob ihren Rock hoch und betastete den Bluterguss an ihrem Knie, der ziemlich übel aussah. Das hatte man davon, wenn man vor dem Zubettgehen Rilke las! Rilke vor dem Einschlafen war pures Gift für die Nachtruhe.
Ein weißes Schloss in weißer Einsamkeit. In blanken Sälen schleichen leise Schauer ... Ein Schloss. Ein Haus. Das Haus, von ihr aus. Aber das erklärte noch lange nicht den Pfad, den ihr Traum-Ich entlanggestolpert war. Und den Haustausch. Den Bungalow. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus, was sie gefahrlos tun konnte, denn keine ihrer Angestellten würde es wagen, ihr Büro zu betreten, ohne anzuklopfen. Todkrank krallt das Gerank sich an die Mauer. Und alle Wege weltwärts sind verschneit. Was mochte sie eigentlich an diesen Versen? Und warum war sie unfähig, Rilke zu hassen? Lyrik überhaupt? War das Dummheit, Schwäche, eine Art geistige Lebensmüdigkeit? Oder ein winziger Funken Gesundheit inmitten der Katastrophe ihres Lebens?
Darüber hängt der Himmel brach und breit.
Es blinkt das Schloss. Und längs den weißen Wänden hilft sich die Sehnsucht fort mit irren Händen . . .
Rilke zu mögen, vor allem die frühen Gedichte, sei ein sicheres Indiz dafür, dass sich der Verstand noch immer im Stadium der Pubertät befinde. Das hatte eine Buchhändlerin auf Ischia einmal zu ihr gesagt, Muriel. Ein gut sortierter Laden, viele Klassiker, vorwiegend deutsche Kundschaft. Sie schmunzelte, während ihr Gedächtnis, das sich zu ihrem Unglück schon immer viel zu gut gemerkt hatte, was sie las, die Sache zu Ende brachte: Die Uhren stehn im Schloss: Es starb die Zeit.
Sie sah wieder ihr Knie an und nahm die Flasche mit Franzbranntwein vom Schreibtisch, die sie aus dem Erste-Hilfe-Kasten neben der Rezeption stibitzt hatte. Sie musste das unbedingt besser trennen. Die Realität und ... das andere.
Ich weiß es im Traum, und der Traum hat recht .
Die Tatsache, dass er ihr bis in ihr Haus gefolgt war, ließ sie nicht los. Albträume veränderten sich nicht einfach so, ohne Grund. Nicht, wenn sie so alt waren wie die ihren. Und dabei war der Schatten, den sie gesehen hatte, ihm nicht einmal ähnlich gewesen. Blond. Da war sie ganz sicher. Sie
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