Der Beutegaenger
Zustand verschlechterte oder dass ihre Eltern es tatsächlich wagten, etwas an der Betreuung ihrer Schwester zu verändern, was dazu führte, dass sich allmählich ein Gefühl von vorsichtigem Optimismus in ihr festsetzte. Sie hatte ihre Schwester besucht, so oft es ihre Zeit erlaubt hatte, und jedes Mal war Elli ganz wie immer gewesen. Gut, ein bisschen unruhiger vielleicht, aber das deutete sie eher als gesteigerte Aktivität ...
Winnie Heller riss den Blick von einer gesprungenen Treppenstufe los, als ihr bewusst wurde, dass Dr. Gutzkow auf eine Reaktion von ihr wartete.
»Bitte?« Sie merkte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Unaufmerksam. Unsachlich. Absolut unprofessionell. Sie schluckte. So wird das nichts mit einer Karriere bei der Mordkommission, Frau Heller. »Der Täter hat was getan?«
Dr. Gutzkow betrachtete sie interessiert und schien zu überlegen, ob sie einer erneuten Schilderung des Sachverhalts überhaupt gewachsen war. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was ich meine«, sagte sie schließlich und ging mit energischen Schritten voraus, denselben Weg zurück, den sie soeben gekommen war.
Verdammt, dachte Winnie Heller, jetzt denken alle, ich sei nicht in der Lage, mir ohne gerichtsmedizinischen Beistand eine Tote anzusehen! »Das ist wirklich nicht nötig«, rief sie Dr. Gutzkows Rücken zu, doch die Pathologin ging einfach weiter, und Winnie Heller wurde den Verdacht nicht los, dass die ganze Angelegenheit sie königlich amüsierte.
Die Leiche lag auf einer schwarzen Plastikplane. In den kahlen, aber dichten Sträuchern ringsum schwebte der Geruch des Todes. Winnie Heller schlüpfte unter der Absperrung hindurch und dankte dem Herrgott dafür, dass es in den vergangenen Tagen recht kühl gewesen war. Sie wagte gar nicht, sich vorzustellen, wie ganze Schwärme von Fliegen bei ihrem Näherkommen aus den blutigen Augenhöhlen emporspritzten. Und wenn diese Fliegen sich dann mit ihren blutig behaarten Beinen auf ihren Armen oder, schlimmer noch: in ihrem Gesicht niederließen. Wenn sie ...
»Hey, Schätzchen, brauchen Sie vielleicht ’ne Kotztüte?« Toll, danke, überaus konstruktiver Vorschlag. »Ich komme schon klar.«
»Sicher?«
Winnie Heller versuchte ein Lächeln, das angesichts der Umstände überaus sparsam ausfiel. »Vertrauen Sie mir.«
»Wie Sie meinen.« Dr. Gutzkows längst wieder behandschuhten Hände kreisten über dem Hals der Toten wie ein rüttelnder Raubvogel. Durch die zarte Haut schimmerte ein Band aus kleineren Blutergüssen. »Sehen Sie sich die Strangmarke an. Sie ist der von der Leistner nicht unähnlich, wenngleich diese Unregelmäßigkeiten hier darauf hindeuten, dass dieses Opfer sich gewehrt hat. Allerdings erst, als ihm die sprichwörtliche Schlinge bereits um den Hals lag.« Die grauen Augen bohrten sich in Winnie Hellers Gesicht. »Hey, hören Sie mir eigentlich zu?«
»Natürlich.«
»Na großartig«, entgegnete die Pathologin lakonisch. »Wie Sie sehen, haben wir dieses Mal keine abdominellen Stichverletzungen, aber dafür die typischen Schnitte an ihren Handgelenken. Einige von ihnen sind nicht besonders tief und erinnern an präsuizidale Probierschnitte. Sie hat ein paar gebrochene Rippen, die wahrscheinlich vom Transport herrühren.Ein älteres, vitales Hämatom am rechten Handgelenk, das aufgrund seines Alters mit der Tat selbst nichts zu tun haben kann. Die restlichen Verletzungen sind perimortem.« Sie stemmte die Hände in ihre fleischigen Schenkel und erhob sich aus ihrer gebückten Haltung. »Kotzen Sie mir hier bloß nicht alles voll, Herzchen.«
»Warum sollte ich?«, fragte Winnie Heller angriffslustig. »Weil ich jung bin? Weil ich eine Frau bin? Weil ich . . . ?«
»Glauben Sie mir, da wären Sie weiß Gott nicht die Erste«, fiel die Pathologin ihr mit größter Gelassenheit ins Wort. »Und aus der Erfahrung von zweiundzwanzig Berufsjahren kann ich Ihnen versichern, dass das Kotzen im Angesicht des Todes nichts mit dem Geschlecht zu tun hat.«
»Ich habe mich im Griff«, wiederholte Winnie Heller, indem sie sich demonstrativ eines von Werneuchens Karamellbonbons in den Mund schob.
Dr. Gutzkow nickte. »Okay.«
»Was ist das für Blut in ihrem Mund? War er das?«
Die Gerichtsmedizinerin schüttelte den Kopf und ging erneut in die Knie. »Sie hat sich in die Zunge gebissen, als er sie stranguliert hat. Passiert nicht selten.« Sie bog den Hals der Toten zurück und öffnete die Kiefer. Winnie Heller zwang sich, genau hinzusehen. Selbst
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