Der Beutegaenger
noch nicht eingetroffen war. Sie zögerte einen Moment und überlegte, ob sie auf ihn warten sollte oder vielmehr: ob er sauer wäre, wenn sie es nicht tat. Und wenn schon!, dachte sie. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, und es war, verdammt noch mal, nicht ihr Problem, wenn Verhoeven sich zuerst um seine hochheilige Familie kümmern musste. Er hatte seine Prioritäten, und sie hatte ihre! Entschlossen schob sie ihrenDienstausweis wieder in die Tasche zurück und stieg die Treppen hinauf. Auf halbem Weg kam ihr Dr. Gutzkow entgegen, die ihre Arbeit vor Ort offenbar bereits erledigt hatte.
»Meine Leute warten mit dem Abtransport, bis Sie sich die Leiche angesehen haben«, begrüßte sie Winnie Heller mit einer Selbstverständlichkeit, für die diese ihr am liebsten um den Hals gefallen wäre. »Sie ist zwölf bis vierzehn Stunden tot. Auf keinen Fall länger. Buchhändlerin. Einundvierzig Jahre. Die Papiere wurden bei ihrem Fahrrad gefunden. Es lehnte ein paar Meter vom Fundort entfernt am Geländer.«
Winnie nickte. »Todesursache?«
»Sie ist erdrosselt worden.«
»Unser Blumenfreund?«
Ein sarkastisches kleines Lächeln zuckte um die Mundwinkel der Pathologin. »Davon würde ich ausgehen«, entgegnete sie. »Er hat uns zwar dieses Mal keine Blume hinterlassen, aber dafür hat er etwas in ihre Wunden gestreut, das wie Blumen samen aussieht.« Sie verlagerte ihr beträchtliches Gewicht auf den anderen Fuß. Irgendwo hatte sie einen Becher Kaffee aufgetrieben, an dem sie von Zeit zu Zeit nippte, während der noch immer recht frische Westwind in ihrem Haar spielte. Es sah aus, als bürste man einen kurzflorigen Teppich in die falsche Richtung. »Außerdem hat er ihr die Augen ausgestochen.«
Einen flüchtigen Augenblick lang war Winnie Heller sich nicht ganz sicher, ob sie richtig gehört hatte. Schlimmer noch: Die ganze Situation kam ihr mit einem Mal verwirrend irreal vor. War das hier am Ende alles nur irgendein bizarrer Albtraum, in den sie geraten war? Sie starrte auf den Weg vor sich und sah urplötzlich wieder den Hightech-Bleistiftanspitzer aus Plexiglas vor sich, dessen Mechanik die Komplexität eines Uhrwerks besaß und der sie erstmals hatte zweifeln lassen, dass sie an die richtige Adresse geraten war. FACHANWALTFÜR FAMILIENRECHT hatte in verschlungenen Goldlettern neben der Tür geprangt, aber was bedeutete schon ein ausgezeichneter Ruf, wenn der Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs einfach nicht verstehen wollte, worum es ihr ging?
»Meine Eltern wollen meine Schwester umbringen«, hatte sie ein zweites Mal gesagt, nachdem er ihrer ersten diesbezüglichen Eröffnung keinerlei sichtbare Beachtung geschenkt hatte und ihr Ansinnen auf Vormundschaft oder Pflegschaft oder was auch immer sonst nötig war, um ihre Schwester zu retten, mit einem einzigen zweifelnden Stirnrunzeln vom Tisch gewischt hatte. Schwierig bis unmöglich, so wie die Dinge liegen, nach all diesen Jahren und ohne konkrete Beweise, noch dazu, wo die leiblichen Eltern ... »Sie haben es gründlich satt, dass irgendwo in dieser Stadt ein Mensch liegt, der sie an ihre Schuld erinnert. Und deshalb behaupten sie, es sei ein Akt der Barmherzigkeit, Elli verhungern zu lassen.«
Er hatte sie aus prüfenden grauen Augen angesehen. So lange, dass sein Blick in ihr ein beklemmendes Gefühl von Nacktheit und Ausgeliefertsein wachgerufen hatte. »Ich fürchte, dass Sie sich da in etwas verrennen.«
Zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon nur noch lachen können. »Glauben Sie?«
»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind die Ärzte . . . «
»Scheiß auf die verdammten Ärzte«, hatte sie ihm mitten in sein feistes Gesicht geschrien. »Ich kenne meine Schwester. Ich kenne sie besser als jeder andere Mensch auf diesem Planeten, und wissen Sie auch, warum? Weil ich in den letzten sieben Jahren jede freie Minute an ihrem Bett verbracht habe. Merkwürdig nur, dass ich unsere verehrten Eltern dort nie getroffen habe, finden Sie nicht? Dieselben Leute, die jetzt so verdammt sicher sind, dass ihre Tochter nicht mehr lange leben wird. Erklären Sie mir das!«
Er hatte geschwiegen. Sie einfach nur angesehen. Er hatte sie wahnsinnig gemacht.
Irgendwann war sie einfach aufgestanden. »Ich werde einen anderen Weg finden«, war das Einzige, was sie noch gesagt hatte, dann hatte sie die Tür zu seinem Büro hinter sich geschlossen.
Das Ganze war jetzt beinahe drei Wochen her, und bislang gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass sich Ellis
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