Der Beutegaenger
vor einer modernen Villa, in der sich, wie er wusste, vier exklusive Eigentumswohnungen befanden.
Tamara Borg hatte die Wohnung in der ersten Etage bewohnt. Winnie Heller kannte den Streifenbeamten, der in der geöffneten Wohnungstür stand, und wechselte ein paar Worte mit ihm, während Verhoeven das Wohnzimmer der Toten betrat. Es war geschmackvoll eingerichtet und verfügte über einen grandiosen Ausblick, der bei gutem Wetter sicherlich bis in die Pfalz reichte.
»Wonach suchen wir?«, erkundigte sich Winnie Heller, während sie respektvoll den großen offenen Kamin betrachtete.
»Wenn ich das wüsste«, seufzte Verhoeven. »Im Grunde bin ich davon überzeugt, dass wir hier nichts finden werden, was unmittelbar mit dem Verbrechen zu tun hat.« Er blickte sich um. »Trotzdem muss es einen Grund geben, warum der Täter Tamara Borg ausgewählt hat. Also sollten wir uns ein möglichst genaues Bild von ihrer Persönlichkeit machen. Von ihren Gewohnheiten. Wie sie ihre Freizeit verbracht hat, wo sie eingekauft hat, wen sie getroffen, wen sie gehasst, wen sie gefürchtet hat.« Ihre Blicke trafen sich. »Vielleicht finden wir doch noch etwas, das sie mit dem ersten Opfer verbindet.«
In den folgenden zwei Stunden durchsuchten sie Tamara Borgs persönliche Habe, sahen Bankauszüge und Papiere durch, lasen persönliche Aufzeichnungen und betrachteten Fotos von Menschen, deren Gesichter ihnen vollkommen fremd waren. Der erste Eindruck bestätigte sich: TamaraBorg hatte keinerlei finanzielle Sorgen gehabt. Sie hatte einige recht wertvolle Schmuckstücke besessen und böhmisches Kristall gesammelt. Darüber hinaus war offenbar das Lesen ihre große Leidenschaft gewesen. Die ganze Wohnung war vollgestopft mit Büchern, unter denen sich einige sehr wertvolle Faksimile- und Erstausgaben befanden. Die Buchhändlerin war Einzelkind gewesen, beide Elternteile waren bereits seit Jahren tot. Eine Cousine lebte in Süddeutschland. Mit ihr hatte Tamara Borg anscheinend mehr oder weniger regelmäßig korrespondiert. Winnie Heller notierte sich die Adresse. Vielleicht hatte die Buchhändlerin in einem ihrer Briefe irgendetwas erwähnt, das für den Fall von Bedeutung war.
Nachdem sie zwei Beamte des Erkennungsdienstes beauftragt hatten, detaillierte Listen aller Namen, Daten und Kontakte zu erstellen, fuhren sie ins Präsidium zurück, wo Verhoeven sogleich ins Büro des Pressesprechers zitiert wurde, der sich mit ihm über Verlauf und Inhalt der anstehenden Pressekonferenz abstimmen wollte.
Winnie Heller lehnte dankend ab, in diese unangenehme Aufgabe einbezogen zu werden, und fuhr stattdessen zu Tamara Borgs Buchhandlung, die seit ein paar Stunden geschlossen war. Bredeney und Werneuchen hatten die Angestellten befragt und nach Hause geschickt. Sie benutzte den Schlüssel, den sie aus Tamara Borgs Wohnung mitgenommen hatte, und sah sich gründlich um. Nach einer guten Stunde rief Verhoeven an. Er klang ziemlich geschafft. Es hatte unangenehme Fragen gegeben. Hinnrichs hatte eine Sonderkommission mit dem bezeichnenden Namen »Blume« ins Leben gerufen, was bedeutete, dass sie ab sofort von einem weiteren Team unterstützt werden würden.
»Morgen früh um acht im Besprechungszimmer«, sagte Verhoeven. »Da verteilen wir die Aufgaben.«
»Gut.«
»Wo sind Sie?«
Dieser Kerl fragt immer dasselbe, dachte Winnie Heller. »In der Buchhandlung.«
»Was gefunden?«
»Negativ.« Sie betrachtete ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe. Es war verschwommen. Nur das resistente Kupferrot funkelte im Neonlicht. »Ein paar Adresslisten im Büro. Ich vergleiche sie nachher noch mit den privaten.«
Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, fuhr Winnie Heller zur Alten Stiege. Sie parkte etwas weiter entfernt als am Vormittag. Der Fußweg war bereits seit einigen Stunden wieder freigegeben, doch jetzt, nach Einbruch der Dämmerung, begegnete ihr niemand. Sie ging zügig und blieb erst stehen, als sie die Lampe erreichte, die der Täter zerschlagen hatte. Du bist schon da gewesen, als sie kam. Dieses Mal warst du vor ihr da und hast auf sie gewartet. Aber wo?
Ihre Augen suchten die Biegung. Dahinter das Gebüsch, in dem die Leiche gelegen hatte. Es gab nicht viele Möglichkeiten. Wenn ich allein in der Dunkelheit diesen Weg gehen müsste, dachte Winnie Heller, würde ich da nicht wachsam sein? Frühzeitig darauf achten, ob mir jemand entgegenkommt? Und wenn es ein Mann wäre, den ich nicht kenne, würde ich dann nicht reaktionsbereit sein,
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