Der Beutegaenger
zutiefst beunruhigt. Den ganzen Nachmittag über hatte sie versucht, ihre Freundin zu erreichen, seit sie von dem Mord an der Alten Stiege gehört hatte. Doch Isolde Reisinger nahm nicht ab. Sie war auch nicht wie versprochen vorbeigekommen, um nach dem Telefon zu sehen. Und genau das sah ihr überhaupt nicht ähnlich! Gedankenverloren schob Lore Simonis das Portemonnaie in ihre Handtasche zurück. Normalerweise war Isolde die Zuverlässigkeit in Person. Natürlich war sie stur wie ein Esel, und es war einfach unmöglich, sie zu etwas zu bewegen, was sie nicht wollte. Aber wenn sie erst einmal zugesagt hatte, sie käme am Nachmittag vorbei, konnte nur eine Naturkatastrophe oder einKrieg sie davon abhalten. Die einzig plausible Erklärung war, dass ihr etwas geschehen sein musste ...
Unschlüssig blieb die alte Dame einen Moment mitten auf dem Gehweg stehen und blickte die Straße hinunter, ohne wirklich etwas von ihrer Umgebung wahrzunehmen. Man hatte die Leiche der Frau am Vormittag in einem Gebüsch an der Alten Stiege gefunden, nur wenige Meter abseits des Fußwegs. Wie lange die Tote dort gelegen hatte, war bislang nicht bekannt geworden. Und genau das war der springende Punkt! Was, wenn sie erst gestern Abend ermordet worden war? Was, wenn Isolde auf dem Nachhauseweg etwas beobachtet hatte oder, schlimmer noch: wenn sie dem Mörder begegnet war? Lore Simonis schüttelte ratlos den Kopf. Andererseits hatte die Polizei doch bestimmt die ganze Gegend abgesucht. Und wenn Isolde ebenfalls ermordet worden war, hätten sie ihre Leiche gefunden. Aber warum meldete sie sich dann nicht? Es war natürlich auch möglich, dass ihr schlecht geworden war. Vielleicht lag sie in ihrer Wohnung und war bewusstlos. Oder unfähig, zum Telefon zu gelangen.
Entschlossen kehrte Lore Simonis in die Telefonzelle zurück. Das Vernünftigste war, wenn sie sich ein Taxi rief, zu Isoldes Wohnung fuhr und den Hausmeister bat, in der Wohnung ihrer Freundin nach dem Rechten zu sehen.
»Das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist eine Serienkiller-Hysterie«, ahmte Verhoeven den schnarrenden, leicht überheblichen Tonfall seines Vorgesetzten nach.
Winnie Heller quittierte diesen ihrer Meinung nach reichlich plumpen Anbiederungsversuch mit einem müden Lächeln und wies dann über die Kreuzung nach rechts. »DieQuerstraße dort drüben führt genau auf die Alte Stiege zu. Wahrscheinlich kam Tamara Borg hier vorbei, wenn sie abends nach Hause gefahren ist.«
»Denken Sie, der Täter hat ihre Gewohnheiten gekannt?«
»Muss er ja wohl«, entgegnete sie. »Es ist im Grunde genau wie im Fall Leistner: Auch dieses Mal konnte der Mörder kaum damit rechnen, zur Tatzeit am entsprechenden Ort auf eine Frau zu treffen, die ohne Begleitung unterwegs ist. Ich meine, ein einsamer Waldweg an einem Wochentag kurz vor Einbruch der Dunkelheit und ein Treppenaufgang, der fast ausschließlich von Anwohnern genutzt wird, an einem kalten Novemberabend gegen neun Uhr ... Das sind keine Orte, an denen man sich auf die Lauer legen würde, wenn man sozusagen auf einen Zufallstreffer hofft.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, er muss jeweils ein ganz bestimmtes Opfer im Auge gehabt haben und genau darüber informiert gewesen sein, wann und wo er dieses Opfer allein antrifft.«
Verhoeven wechselte die Spur, um an der nächsten Kreuzung abbiegen zu können. Dann führte die Straße den Hang hinauf. »Das würde aber doch zwingend bedeuten, dass er die Frauen zuvor beobachtet hat.«
Winnie Heller nickte ohne rechte Überzeugung.
Verhoeven dachte wieder an Monika Gerling und überlegte, ob die Buchhalterin ihnen tatsächlich alles erzählt hatte, was sie wusste. Würde sie es denn nicht zwangsläufig bemerkt haben, wenn Susanne Leistner verfolgt worden wäre? Oder täuschte er sich, was das betraf, weil auch Susanne Leistners neugieriger Kollegin hin und wieder etwas entging? »Na schön«, sagte er. »Angenommen, unser Mann beobachtet die Frauen, bevor er sie tötet. Dann müssen wir uns die Frage stellen, warum zumindest im Fall Leistner niemand etwas davon bemerkt hat.«
Winnie Heller zerbiss den Rest ihres Karamellbonbons.
»Vielleicht hat er es sehr geschickt angestellt«, sagte sie. »Und wenn Susanne Leistner sich nicht bedroht gefühlt hat, mag es durchaus sein, dass sie nicht besonders auf ihre Umgebung geachtet hat.«
»Oder der Beobachter gehörte so selbstverständlich zu ihrem Umfeld, dass er ihr gar nicht aufgefallen ist.« Verhoeven hielt
Weitere Kostenlose Bücher