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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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betrachtete ihren schlanken, fast knochigen Rücken und fragte sich, ob er wütend war oder Angst hatte. Oder beides. Seit Grovius’ Tod befand er sich wieder in einer jener Phasen, in denen er nicht sicher war, was er fühlte. Ob er überhaupt etwas fühlte. Wie es ihm ging. »Ich habe einfach Angst, dass Nina. ..«
    »Ja doch, ich weiß.« Sie stand auf, kam mit geschmeidigen Schritten herüber und setzte sich neben ihn auf die Bettkante. »Aber sie ist eine starke kleine Persönlichkeit, die hin und wieder mal ein bisschen Freiraum braucht. Das tut ihr gut, auch wenn es dir nicht gefällt.«
    Er wusste, dass sie recht hatte. Trotzdem würde er nicht aufhören, auf seine Tochter aufzupassen. Nicht bevor sie mindestens achtzig war. Er würde hinterfragen, was mit ihr geschah, was sie machte, in den Zeiten, in denen sie sich nicht unter seiner oder Silvies Beobachtung befand. Er würde sich die Menschen ansehen, denen er sie anvertraute, und auch die, von denen sie mehr als einmal erzählte. Apropos ... »Was ist das übrigens für ein Junge, von dem sie da immer spricht?«
    »Dominik Rieß-Semper?« Sie lachte. »Ein netter kleiner Fettsack mit ökologisch-kritischen Eltern.«
    »Klingt ziemlich harmlos«, gab er zu.
    Sie nickte. »Solange es nicht um Fast Food geht, ist der Junge das reinste Lamm.«
    »Und sonst?«
    »Was meinst du?«
    »Was genau findet Nina so toll an ihm?«
    »Keine Ahnung.« Sie zuckte die Achseln, bevor sie ihm mit Verschwörermiene zuflüsterte: »Wenn ich sie richtig verstanden habe, besitzt er einen Experimentierkasten. Oh nein, nicht was du denkst«, setzte sie eilig hinzu, als sie seinen entsetzten Blick bemerkte. »Es geht dabei um Wetter und Luftdruck und solche schönen Dinge. Du weißt schon, eins von diesen Galilei-Thermometern mit Glaskugeln, die aufsteigen und so was alles. Ich meine, sie stellen kein Nitroglyzerin her oder so. Und es fliegt auch nichts in die Luft.«
    »Schielt er?«, fragte Verhoeven.
    »Dominik?«
    »Ja.«
    »Nicht, dass ich wüsste.«
    Er runzelte die Stirn. »Ich möchte ihn kennenlernen.« »Wozu?«
    »Ich will einfach wissen, mit wem sie Umgang hat.«
    »Du liebe Güte, Hendrik«, rief Silvie mit einem leisen Lachen. »Deine Tochter ist vier.«
    »Ja«, sagte er. »Genau.«
    Sie kniete sich hinter ihn und begann, seinen Nacken zu massieren. »Na schön, ganz wie du meinst. Und was macht dein Fall?«
    »Eine Katastrophe.«
    »Warum?«
    »Weil ich keine einzige der Fragen beantworten kann, die ich mir stelle.«
    »Das liegt nicht an dir.«
    Er schloss die Augen und fühlte ihre Hände auf seinen Schultern. Bemerkte erst jetzt, wie verspannt seine Muskeln waren. Steinhart. Ich nehme das alles mit nach Hause, dachte er. Die Leichen. Die Fragen der Journalisten. Diesen ganzen gottverdammten Fall. Schon früher an diesem Tag war ihm aufgefallen, dass er die Bilder nicht mehr loswurde, die Toten, die Gesichter der ermordeten Frauen, und zum ersten Mal im Verlauf seiner Karriere fürchtete er sich davor, Schaden zu nehmen an seinem Beruf. »An wem sollte es sonst liegen?«, fragte er.
    »Und die Neue?«, erkundigte sich Silvie, ohne auf seine Frage einzugehen.
    »Was soll mit ihr sein?«
    »Magst du sie?«
    Verhoeven dachte einen Moment nach. »Sie ist begabt.« »Das wollte ich nicht wissen.«
    Er seufzte. »Ich weiß. Aber mehr kann ich noch nicht sagen.«

Mittwoch, 15. November 2006
    »Haben Sie ein Taschentuch?«
    »Nein, tut mir leid«, entgegnete Winnie Heller mit überaus halbherzigem Bedauern. Ich habe kein Taschentuch, keine Büroklammern, keine Ersatzbriefumschläge. Keine Pflanze, keine von diesen kleinen grünen Plastik-Gießkannen und nur einen einzigen Gummiring, aber den brauche ich für meine Haare. Sorry. Genau genommen habe ich nicht mal einen eigenen Schreibtisch, sondern ein Relikt, nein: eine Reliquie des heiligen Grovius, in der vermutlich jede Delle eine aufregende Geschichte von Verwegenheit und Männerbündelei erzählt. Sie blickte auf, weil sie fühlte, dass Verhoeven sie noch immer ansah. »Soll ich welche besorgen?«
    »Nein.«
    »Nicht, dass Sie mir am Ende einen Tadel in die Beurteilung schreiben.« Sie lächelte, aber ihre Wangen waren von einer unnatürlichen Röte überzogen.
    Verhoeven bemerkte es und fragte sich, was er falsch gemacht hatte.
    »Frau Heller war vorlaut, aufbrausend und hatte nie Taschentücher«, rief sie pathetisch.
    Er beugte sich vor. »Haben Sie irgendein Problem mit mir?« »Mit Ihnen?«
    »Ja.«
    »Warum

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