Der bewaffnete Freund
Spuren.
Der Amazonas ist bei Santarém, obwohl stromabwärts gelegen, deutlich schmaler als bei Manaus. Doch auch hier ist er noch ein imposanter Fluss, an seinen Ufern erheben sich gewaltige Sandbänke. Der Hafen, von dem Passagierschiffe bis weit nach Peru und Bolivien hineinfahren, liegt an einem solchen Strand, und viele Reisende nutzen den Zwischenaufenthalt der kleineren Dampfer, um sich im Fluss zu waschen oder an der Promenade die Beine zu vertreten, denn auf den Passagierschiffen ist nicht viel Platz – man schläft auf drei Decks in Hängematten.
Ich war froh, als wir ankamen und von Bord gehen konnten. Zielstrebig sprang ich ins Wasser, und sofort fühlte ich mich wie am Meer: leichter Wellengang, Liegestühle am Strand, Sonnenschirme, kleine Holzbaracken, wo Getränke, Fischgerichte und Kokosnüsse verkauft wurden, Fußball spielende Kinder.
Zubieta entdeckte ich neben dem Kiosk im Schatten.
Er grinste, als ich fragte, wie es ihm gehe.
»Habe ich einen Grund, mich zu beschweren?«, antwortete er.
»Ich weiß nicht.«
Ein Containerschiff zog vor unseren Augen durch das Sumpfland Richtung Manaus. Momente von reinem Glück: dunkler Sand, gelblich-braunes Wasser, orangenfarbenes Licht, wenn man die Augen schloss und zum Himmel hinaufblickte.
»Hast du wirklich keinen?«, hakte ich nach.
Von einem anderen Boot drang das Brüllen von Rindern herüber, die von riesigen Farmen im Herzen des Regenwaldes flussabwärts in Richtung Schlachthöfe transportiert wurden. Ins Innere Amazoniens führt bis heute keine Straße. Die Güter, die in die Region gelangen oder sie verlassen, werden auf dem Wasserweg hinein- und hinausgebracht.
»Findest du, dass man sich hierüber beklagen kann?«
»Ich finde eigentlich, dass man sich über alles beklagen kann«, antwortete ich.
»Siehst du«, sagte Zubieta, »das ist das Problem von euch Europäern. Ihr müsst euch ständig bemitleiden.«
»Ich dachte, ihr seid die Europäer«, spottete ich. »Das älteste Volk des Kontinents … seit der Steinzeit sprecht ihr die gleiche Sprache und trotzt jeder Assimilation.«
»Stimmt. Wir sind die europäischen Indianer.« Er lächelte. »Deswegen fühle ich mich hier auch so wohl …« Er saugte an seinem in der Kokosnuss versenkten Strohhalm. »Sag mal, wenn du schon nicht liest – machst du dann wenigstens was Politisches?«
»Du meinst, ob ich Bomben lege?«
»Auch …« Er lächelte. »Auch das. Aber nicht nur …«
Zubieta hatte mit den Amazonas-Indianern nichts zu schaffen. Die Bemerkung war Teil seiner Selbstinszenierung. Tatsächlich hatte er, wie ich damals erfuhr, nach einer längeren Odyssee mit seiner Freundin zunächst ein Restaurant im argentinischen Córdoba betrieben, das vor allem von Landsleuten frequentiert wurde.
Viele Auswanderer aus der Region um X leben in Lateinamerika. Die ersten kamen im 17. Jahrhundert als Kolonisatoren und Kirchenmänner, um 1900 verließen Hunderttausende aus wirtschaftlichen Gründen ihr Land, ein dritter Flüchtlingsstrom folgte nach 1937, und eine vierte Welle bestand aus Leuten wie Zubieta, die die Demokratisierung nach Franco für eine Farce hielten. Obwohl diese Auswanderergruppen nicht viel miteinander verband und sie sich in Lateinamerika immer wieder als Feinde gegenüberstanden – die einen auf der Seite der alteingesessenen Eliten, Zubietas Generation in den Reihen von Guerillaorganisationen und revolutionären Bewegungen – gibt es in fast allen großen Städten des Subkontinents Vereine, in denen die Auswanderer und ihre Nachkommen zusammenkommen, um pelota zu spielen, jene ohne Schläger gespielte Urform des Squash, und um ausgiebig zu essen.
Das Restaurant von Zubieta und seiner Freundin war auf Fisch spezialisiert, der in Córdoba nicht so leicht zu bekommen war, und obwohl sich die zwei oft mit den Landsleuten aus der Oberschicht stritten, war das Lokal jeden Abend voll. Für ein paar Jahre muss es ausgesehen haben, als hätten es Zubieta und seine Freundin geschafft. Sie verdienten gut, besaßen ein Haus am Stadtrand, fuhren einen Mittelklassewagen und interessierten sich scheinbar kaum noch für Politik. Sie waren ungefähr das, was Geheimdienste als »Schläfer« bezeichnen. Doch ich glaube nicht, dass sie dabei einem Plan folgten. Viel wahrscheinlicher ist, dass sie einfach normal leben wollten, bis sie feststellten, dass ihnen auch so etwas im Leben fehlte.
Es muss 1996 gewesen sein, als sie ihr Restaurant überstürzt verkauften, Haus und Auto
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