Der bewaffnete Freund
wahrscheinlich auch nicht erläutert werden können, weil jede Erklärung falsche Zuordnungen nach sich ziehen würde, hermetische Bedeutungszusammenhänge.
In der Nähe der kolumbianischen Stadt Barranquilla werden die beiden bei einer Militärkontrolle vorübergehend verhaftet. Die Frau nimmt Hilfe von Leuten in Anspruch, denen sie nur deshalb sofort vertraut, weil sie die gleiche, marginale Sprache sprechen wie sie selbst: Erkennungszeichen. Es sind Kinder von Exilanten, die aus ihrem Geburtsland, der Region um X, 1937 flohen, als die republikanischen Truppen im Norden der Halbinsel besiegt wurden.
Die Freundin lässt den Kranken bei den Bekannten zurück, die ein Sanatorium leiten, und reist nach Ecuador weiter, um den ehemaligen Schulfreund des gefrorenen Mannes zu treffen.
Drei Stimmen sind es, die nun sprechen. Die erste berichtet von den Bemühungen der Frau, dem Kranken zu helfen. Eine zweite Stimme erzählt von der gemeinsamen Vergangenheit des gefrorenen Mannes und seines Klassenkameraden in einer Jesuitenschule in der Nähe von X. Es sind die bleiernen Jahre von Katholizismus und Diktatur. Bilder, Landschaften, Stimmungen: grüne, dicht bewachsene Berghänge, der Schulweg, die kleinen Boote im Hafen von Kalaportu, was tiefer Hafen oder Fischerhafen bedeuten kann, die steinernen, klobigen Bauernhäuser, die es nur hier gibt, ein Strand. Die dritte Stimme schließlich widmet sich einer Episode, die Wahrsagung oder Therapie sein könnte. Sie erzählt dem Mann ohne Erinnerung, wie er sich auf eine Antarktisreise begeben wird. Sie sagt vorher, dass ein todkranker Wissenschaftler ihn für eine Polarexpedition als Pfleger anheuern wird, weil der Wissenschaftler Morphium gegen die Schmerzen nehmen muss und nur ein ausgebildeter Krankenpfleger das Opiat verabreichen darf. Der gefrorene Mann macht sich also als Begleiter eines Sterbenden auf die Fahrt an den unbewohnten, stummen Rand der Welt, wo außer Pinguinen und Seerobben tatsächlich alles aus Eis zu sein scheint.
Als der gefrorene Mann endlich auf dem Weg der Besserung ist, muss er erneut fliehen. Spanische Geheimpolizisten haben ihn und Maribel aufgespürt, die beiden fürchten, die Polizei könnte sie verschwinden lassen.
Von Sarrionandias Roman Lagun izoztua, der 2001 mit dem Preis der spanischen Literaturkritik ausgezeichnet wurde, liegt bis heute keine Übersetzung ins Spanische vor. Es heißt, der Autor sei nicht zufrieden mit der vom Verlag vorgelegten Fassung gewesen. Ohne die Übersetzung jedoch kann das Buch kaum in andere Sprachen übertragen werden. Es gibt nur eine Handvoll Übersetzer für die marginale Sprache. So bleibt der potenzielle Leserkreis auf vielleicht 800.000 Menschen beschränkt.
Aber vielleicht lässt sich das Buch auch gar nicht übersetzen.
Viele Leute in X weisen darauf hin, dass ihre Sprache einzigartig sei, »die älteste Europas«, und versteigen sich zu so aberwitzigen Thesen wie der, dass sie, die Bewohner der Westpyrenäen, diese Sprache seit Zehntausenden von Jahren sprächen – als wären die Busfahrer, Architekten, Fließbandarbeiter von X mit jenen Cro-Magnon-Menschen identisch, die vor 30.000 Jahren über die iberische Halbinsel streiften. Die gleichen Leute weisen außerdem gern darauf hin, dass ihre Sprache mit keiner anderen verwandt sei, grammatikalisch dem Südchinesischen näher stehe als dem Spanischen und ein völlig eigenständiges Konzept der Welt reflektiere.
Andere Bewohner von X, oft mit den gleichen Nachnamen, behaupten hingegen, dass die Sprache ein Ausschlussinstrument darstelle. Man könne sie nicht lernen, sie sei schlichtweg zu kompliziert: Hunderte von Konjugationsvarianten. Diejenigen, die sie nicht als Kinder erlernten, würden nie dazugehören.
Doch vielleicht ist alles viel einfacher.
Das Verbot der marginalen Sprache und die später durchgesetzte Überzeugung, dass die Sprache einfach nur überflüssig ist, erzeugen unter denen, die trotzdem an ihr festhalten, ein Gefühl von Nähe und Zusammengehörigkeit. Sätzen und Worten sind Erfahrungen von Diskriminierung, Vertrautheit, Verschwörung eingeschrieben. Das macht einen Teil ihres Klangs aus. Wer die Sprache benützt, verwendet sie, weil er weiß, dass ihr Gebrauch bis heute nicht gewöhnlich ist. So entsteht ein Subtext, ein spezifischer Bedeutungszusammenhang, eine Signifikanz jenseits der Signifikanz.
Manchmal denke ich, man müsste Zubieta schon allein deswegen helfen, weil er Sarrionandia zur Flucht verholfen hat.
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