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Der bewaffnete Freund

Der bewaffnete Freund

Titel: Der bewaffnete Freund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raul Zelik
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davon verbrachte ich in Nordafrika. Alles stellte einen Kraftakt dar: zum Abfahrtort eines Busses gelangen, ohne die Sprache der Einheimischen zu beherrschen; ein billiges Hotelzimmer finden; die Angebote selbsternannter Touristenführer abwehren, die auf naive, in ihren Augen wahrscheinlich wohlhabende Reisende spezialisiert waren. Meine Reise trieb mich jeden Tag von neuem zur Verzweiflung. Und doch habe ich an keine andere Zeit in meinem Lebens so präzise Erinnerungen wie an dieses Jahr. Der Sternenhimmel über einem kalkweißen Haus, in dem es nach Salzlake roch, das Geräusch des über aufgebrochenen Asphalt rieselnden Sands, das Schlagen von Wellen an die Kaimauern der algerischen Küstenstadt Oran, in der Albert Camus zur Welt kam und in der ich alle seine Bücher noch einmal las.
    Bruce Chatwin hat einmal behauptet, Nomaden seien Völker ohne Depressionen. Es gab aber noch einen anderen Satz, ich glaube, aus dem gleichen Buch, den ich in meinen Block notiert hatte: »Ich schlief in schwarzen, in blauen Zelten, in Zelten aus Häuten und in Jurten aus Filz und hinter einem Windschutz aus Dorngestrüpp. Eines Nachts, von einem Sandsturm in der West-Sahara überrascht, verstand ich Mohammeds Ausspruch: ›Eine Reise ist ein Stück der Hölle.‹«
    An die Klarheit und Gewalt dieser ersten Fahrt ist nichts wieder herangekommen. Und trotzdem ahne ich dieses Gefühl immer wieder, wenn ich alleine unterwegs bin.
    Eine Fließbewegung. Ein Strom, der kein Subjekt kennt. Den man als Reisender nicht kontrolliert.
    Der einen durchquert.
     
    Am frühen Abend setze ich mich vor meiner neu bezogenen Wohnung auf die Straße. Das Haus, in dem ich eine billige Zweizimmerwohnung bezogen habe, stammt aus den fünfziger Jahren. Die Briefkästen sind wie in Berlin alle kaputt, das Treppenhaus ist heruntergekommen, es riecht nach Feuchtigkeit.
    Kein Plastik, kein sanierter Chic.
    Ich fühle mich wohl hier.
    Entspannt schlage ich die Zeitung auf, die ich auf dem Heimweg gekauft habe. Die Fahndung nach Zubieta ist kein Thema mehr, die Islamisten bestimmen das Geschehen, der flüchtige Freund scheint vergessen. Mein Blick schweift über das Papier, in der Abenddämmerung verschwimmen die Buchstaben zu einer grauen, amorphen Masse. »Der Abend senkt sich über den Tag«, heißt es in Sarrionandias Roman, »einen düsteren, aus Regenfäden gewobenen Vorhang herabziehend.«
    Von den Giebeln der anliegenden Dächer dringen die Schreie von Mauerseglern herüber, die die letzten Wochen vor ihrer Abreise nutzen, um sich Reserven für ihren Flug nach Süden anzufressen.
     
    I ch stecke mir eine Zigarette an, auf der anderen Flussseite erahnt man die Umrisse einer stillgelegten Industrieanlage, aus einem offenen Fenster dringt elektronische Musik.
    Am letzten Tag vor meiner Abreise aus Brasilien verbrachten Zubieta und ich die Nacht auf einer kleinen Anhöhe in der Nähe des Landlosen-Camps. Wir sprachen über das Vergehen von Zeit: wie sehr sich Europa verändert hatte, wie wenig seine Heimatstadt dem Ort ähnelte, den er 1985 verlassen hatte, und ob man bei der Fahrt zu diesem Ort, der nicht mehr der gleiche ist, überhaupt von einer Rückkehr sprechen könne, wenn doch ›Zuhause‹ oder meinetwegen auch ›Heimat‹ in erster Linie eine Vertrautheit mit Verhältnissen beschreibt.
    »Alles ist heute anders, nur ihr«, warf ich dem Freund vor, »hängt immer noch an den gleichen Geschichten wie vor zwanzig Jahren. An den gleichen Gegnern, Theorien und Erklärungen. Als wolltet ihr euch ein Stück Sicherheit erhalten.«
    Vom Krieg des Lichts gegen die Finsternis war damals noch nicht die Rede. Und doch war nicht zu übersehen, dass die Muster, mit denen wir die Welt früher erklärt und geordnet, für Übersichtlichkeit gesorgt hatten, keine Gültigkeit mehr besaßen.
    Zubieta antwortete erst nach langem Schweigen.
    Er rauchte, und, wie jetzt, leuchtete die Glut der Zigarette in der Dunkelheit orangefarben auf.
    »Vielleicht wird man noch erleichtert darüber sein, dass es einen Winkel in Europa gibt, in dem das Wissen der siebziger Jahre nicht völlig verschwunden ist.«
     
    Ich habe die Zigarette ausgedrückt und will aufstehen, um ins Haus zurückzugehen, als plötzlich ein älterer Mann auf mich zutritt.
    »Müde?«, fragt er und setzt sich, ohne auf eine Einladung zu warten, neben mich in den Hauseingang.
    »Nicht wirklich«, antworte ich.
    »Schöner Abend.« Er deutet mit dem Zeigefinger Richtung Fluss. Nur ein schmaler Streifen am

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