Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der bewaffnete Freund

Der bewaffnete Freund

Titel: Der bewaffnete Freund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raul Zelik
Vom Netzwerk:
hieß, die Landlosen bereiteten einen Marsch nach Manaus vor. Als ich von den Auseinandersetzungen erfuhr, wollte ich sofort in das Gebiet fahren und Interviews machen, aber es stellte sich heraus, dass sich die Fazenda ohne Allradantrieb nicht erreichen ließ.
    Ich hatte meinen Plan schon aufgegeben, als mir Zubieta anbot, mich zu begleiten. Bei einem befreundeten Jesuiten trieb er einen alten russischen Jeep auf, und wir machten uns auf die 24-stündige Reise. Ziemlich genau auf halbem Weg hielten wir in einem kleinen Dorf an einem Nebenfluss des Rio Branco, um zu Abend zu essen. Es roch modrig in den schlammigen Gassen, wir hatten den Wagen an der Bundesstraße zurückgelassen und schlängelten uns zwischen Pfützen und Holzhütten hindurch, als plötzlich ein Mann mit einem Fleischermesser aus der Dunkelheit trat und unser Geld forderte.
    »Alles Geld?«, fragte Zubieta.
    »Alles«, antwortete der Mann.
    »Wir haben 120 Reais. Wir wollten gerade etwas essen. Kannst du uns nicht 15 Reais für zwei Mahlzeiten lassen?«
    Der Räuber blickte uns verwundert an, warf dann aber tatsächlich den gewünschten Betrag vor uns auf den Boden und verschwand in der Nacht.
    Als wir wieder alleine waren, fragte ich Zubieta, warum er seine Pistole nicht gezogen hatte. Auch wenn der Freund zu dieser Zeit ein mehr oder weniger legales Leben führte, trug er eigentlich immer eine Waffe bei sich – er behauptete, er ertrage das Gefühl nicht, der Staatsmacht hilflos ausgeliefert zu sein.
    »Wozu trägst du eine Knarre spazieren, wenn du sie nicht benützt?«, fragte ich ihn.
    »Findest du das nicht ekelhaft? Den eigenen Besitz mit einer Pistole zu verteidigen? Wenn man Waffen einsetzt, dann doch wohl nur, um sich gegen die Mächtigen zu wehren.«
     
    Telefonat mit Hanna. Ich kann mich schlecht konzentrieren. Erkundige mich, wie es ihrer Katze geht, weiß keine Antwort, als sie fragt, wann ich nach Berlin komme.
    Katharina nimmt sich kaum Zeit für zwei Sätze. Nur knapp lässt sie mich wissen, dass ich Grüße an »die nette Bauernfamilie« ausrichten soll.
     
    Kein klarer Gedanke. Ich gehe nicht zur Universität, lese keine Bücher, besuche keine Bekannten. Streife nur durch die Stadt und überlege, was ich dem Fremden antworten soll.
    Ich denke, dass Zubieta Solidarität nie an Bedingungen knüpfen würde, er einen Freund aus dem Gefängnis befreit hat, ich seine klare, aufrichtige Art immer gemocht habe. Ich würde ihn gern wieder sehen. Aber dieses Vorhaben ist unkalkulierbar: mit Zubieta, einem Terroristen, über die Halbinsel fahren.
    Ratlos laufe ich durch die Straßen, immer schneller, immer zielloser, angetrieben von der Erinnerung, einem schlechten Gewissen, dem Gefühl, etwas zurückgeben zu müssen, verfolgt von dem Gedanken an Badewanne, Plastiktüte, Elektroden.
    Nachdem ich einen halben Tag regungslos vor dem Fernseher verbracht, einen weiteren halben die Strukturtapete meiner möblierten Einzimmerwohnung angestarrt habe, beschließe ich, in Zubietas Heimatort zu fahren. Das Dorf liegt an der Atlantikküste, vielleicht zwanzig Kilometer außerhalb von X. Schon wenige Minuten hinter der Stadtgrenze stößt man auf Weideland, milde, salzige Seeluft strömt durch das offene Autofenster herein, auf dem Meer erahnt man im Dunst die Umrisse eines Containerschiffs.
    Ich parke den Wagen neben einem Dorfrestaurant und schlendere die Landstraße hinunter, an klobigen weißen Häusern mit grünen Fensterverschlägen und einer breiten, nicht sehr hohen steinernen Kirche vorbei. In diesen Gassen ist Zubieta groß geworden, vor vierzig Jahren hat er hier gespielt. Hinter einer Straßenbiegung bleibe ich stehen. Von einer Anhöhe aus sieht man, direkt neben den Klippen, eine riesige Anlage stehen, einen gewaltigen Industriekomplex. Das Meer, das dumpf in den Ohren dröhnt, scheint fast bis an die Mauern des Baus zu schlagen – grün, unruhig, von beständigem Zittern erfasst.
    In Zubietas Heimatdorf, direkt am Meer, steht ein Atomkraftwerk, das einzige in der Region um X. Es wurde nie in Betrieb genommen. Auch zwanzig Jahre nach Baustopp sind die Kühltürme, Bauruinen, immer noch mit Stacheldraht umzäunt. Ich blicke den Hang hinunter: Spritzende Schaumzungen, Wassermassen, die sich, vom Wind zusammengepresst, nach oben stemmen, als wären sie zu Leben erweckt, die Spuren zweier Spaziergänger, die sich in Schlangenlinien auf jenem schmalen Streifen Strand zu halten versucht haben, auf dem die Feuchtigkeit den Sand so

Weitere Kostenlose Bücher