Der bewaffnete Freund
Weide. Die Tiere entdecken wir in einer Kuhle. Die trächtige Kuh hinkt.
»Hast du das im Fernsehen gesehen?«, wechsele ich das Thema.
»Was?«
»Den neuen Chef der Organisation. Den Mann, den sie überall suchen. Er war früher Montserrats Freund. Wusstest du das?«
Antonio treibt die Kühe mit einem Zungenschnalzen vor sich her.
»Früher«, der Freund blickt mich kaum an, »war Zubieta jeden Sommer hier. Bevor du gekommen bist.«
Überrascht bleibe ich stehen. Die Familie hat es mir gegenüber nie erwähnt: Ich habe Zubieta als Besucher in den Sommerferien abgelöst.
Antonio trennt die Kuh von der Herde und treibt sie talabwärts. Höchstens eine Woche bleibe ihr noch bis zur Niederkunft, sagt er. Als wir an der Kirche am Ortsrand vorbeikommen, erinnere ich mich an die Inhaftierung von Jon, Bilder von Misshandlungen schießen mir durch den Kopf. Und dann sage ich einen Satz, der zwar aufrichtig gemeint ist, aber dessen Tragweite mir in diesem Augenblick nicht bewusst ist.
»Wenn einer von euch noch einmal diese Probleme hat«, sage ich, »Probleme wie Jon – du weißt, dass ihr auf mich zählen könnt.«
Doch Antonio treibt nur wortlos weiter seine Kühe an.
XI
Erleichterung, als Katharina und Hanna abgereist sind. Endlich Zeit, endlich keine Rechtfertigungszwänge mehr. Ich verbringe einige Vormittage in der Bibliothek. Am Freitag verlasse ich den Campus gegen zwölf und laufe den Hang hinunter, Richtung Altstadt. Auch in X hat der Herbst Einzug gehalten, der Himmel scheint ausgebleicht, vom Atlantik zieht eine frische Brise herüber. In einer der Altstadtgassen, den wenigen Straßen im Zentrum, die von Modernisierungsmaßnahmen bisher verschont geblieben sind, kaufe ich mir in einem kleinen Ultramarino etwas zu essen.
In den Zeitungen, die vor dem Kiosk nebenan aushängen, ist von antiwestlichen Massenkundgebungen in muslimischen Ländern die Rede.
Am Morgen habe ich zum ersten Mal mit Salvatore über mein Projekt gesprochen: »eine Studie über Minderheitensprachen im Integrationsprozess«, habe ich gesagt, und Salvatore hat auffallend kühl reagiert. Offensichtlich empfindet er bereits das Interesse an der Sprache als Affront. Um ihn versöhnlich zu stimmen, habe ich ihm angeboten, eine Lehrveranstaltung an der Universität durchzuführen. Mir sei klar, dass ich die Anmeldefristen verpasst hätte, aber vielleicht könne ich mich trotzdem nützlich machen. Weil er erneut schwieg, habe ich hinzugefügt, dass ich Lehrerfahrung sammeln möchte, denn wichtiger als konkrete Themen sei ja die Lehrpraxis an sich, in dieser Hinsicht würde ich gern von ihrem Wissensschatz profitieren. Erst auf diesen Satz hin ist er aufgetaut. Hat mir Kaffee eingeschenkt und über die Bürokratie an der Universität geklagt. In mancher Hinsicht seien die Spanier heute deutscher als die Deutschen selbst, hat er lachend gesagt, auch das sei europäische Vereinigung. »Wir spielen mit vertauschten Rollen.« Eher beiläufig sind wir dann auf die islamischen Kundgebungen zu sprechen gekommen, die die Nachrichten in diesen Tagen beherrschten. Salvatore meinte, dass der Westen dem Rückfall ins Anti-Rationale, wie es heute für die arabische Welt kennzeichnend sei, mit aller Entschlossenheit entgegentreten müsse. »Es gibt eine Grenze des Respekts«, so seine Formulierung, »der Westen muss die Vernunft gegen den Ansturm der Dunkelheit verteidigen.«
Genau diese Worte verwendete er: Westen, Vernunft, Ansturm, Dunkelheit.
»Lenzensbach, euer Schriftsteller, hat es neulich doch wunderbar erklärt. Das Anti-Rationale entspringt einer kollektiven Frustration. Die islamische Welt verkraftet es nicht, in den vergangenen fünfhundert Jahren nichts Wesentliches zu Wege gebracht zu haben.«
Im Stillen habe ich über die Leistungen der letzten fünfhundert Jahre europäischer Zivilisation nachgedacht, über Kolonialismus, Sklaverei, zwei Weltkriege, Auschwitz, und mich gefragt, wie ich die nächsten Monate mit diesem Mann aushalten soll.
Auf einer Parkbank esse ich ein Sandwich, danach streife ich durch die Stadt. Zum ersten Mal seit langem stellt sich bei mir so etwas wie eine Euphorie des Fremdseins ein.
Glänzende Ziegeldächer, nach Waschmittel riechende Hauseingänge, ein im Schatten nur langsam trocknender Pflasterstein – Reisen, das ist zumindest meine Überzeugung, entfaltet seine spezifische Intensität erst dann, wenn man allein ist.
Nach dem Abitur bin ich ein Jahr lang um das Mittelmeer gefahren, die meiste Zeit
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