Der bewaffnete Freund
meine Hand, zum ersten Mal seit fast zwanzig Jahren.
Ich kann die Bilder und Begriffe nicht mehr auseinander halten: Zubieta, die Fahrt, Haberkamm, eine Demonstration, Hanna und Katharina, meine Unfähigkeit zur Nähe, Rabbee, der Schriftsteller Sarrionandia, Montserrat.
Einmal, vor vielen Jahren, haben die Freundin und ich uns geküsst. Es ist eine Ewigkeit her.
»Das ist keine einfache Konstellation.«
»Ist doch nicht ungewöhnlich«, antwortet sie, »wenn die Eltern eines Kindes nicht zusammen sind. Oder es nie waren.«
Ich will Montse nach Zubieta fragen. Ob sie weiß, was er macht. Mich erkundigen, was sie davon hält, dass er zurückgekommen ist. Eigentlich dürfte die Frage keinen Verdacht wecken. Es stand in der Zeitung, alle haben darüber berichtet.
Ich will erzählen, dass ich nachts nicht gut schlafe. Dass mich Panikattacken überkommen.
Stattdessen rede ich weiter über meine Beziehungen, Nicht-Beziehungen.
»Schon ungewöhnlich. Der Freund, mit dem ich hier war, Rabbee … Ich hatte was mit ihm.«
»Eine Affäre?«
»So was in der Art …« Schnell schiebe ich eine Erklärung hinterher. »Es ist nicht so, dass ich schwul geworden wäre.«
Verwundert schaut sie mich an. »Wo wäre das Problem, wenn du schwul wärst?«
Als wir uns damals küssten, damals vor vielen Jahren, rückte ich ein Stück von ihr ab. Ich glaube, ich hätte ihre Nacktheit nicht ertragen.
»Ich will nur, dass du das weißt.«
In ein paar Tagen werde ich wieder im Auto sitzen und Richtung Süden fahren. Mit Zubieta auf dem Beifahrersitz. Vielleicht wird man uns festnehmen. Ich frage mich, wie sie einen Ausländer behandeln würden. Mir ist schwindelig.
»Was ist los mit dir?« Sie streicht mir über den Kopf.
»Ich …«, setze ich an.
Jede Nacht bis zur Abfahrt nachts aus dem Schlaf schrecken und Vermummte im Zimmer stehen sehen.
Schließlich sage ich: »Kann ich heute Nacht bei euch bleiben? Ich fühle mich in der neuen Wohnung nicht so wohl. Schrecklich möbliert. Außerdem ist es zu heiß.«
Die Freundin nickt.
»Dieses Herbstwetter …«, füge ich stockend hinzu, »ich glaube, es macht mich krank.«
XVI
Ich bleibe nicht nur eine Nacht, sondern verbringe auch die darauf folgenden Tage bei Montserrat und ihrem Freund. Haberkamm reist nach Madrid weiter, wo ein Verlag eine spanischsprachige Gesamtausgabe seiner Bücher vorbereitet. Ich begleite ihn an seinem letzten Vormittag bei einem Spaziergang durch X. Der Professor ermutigt mich, »mein Thema weiter so energisch und mit eigenem Blick zu verfolgen wie bisher«. Ich bin mir nicht sicher, ob er sich über mich lustig macht oder wirklich nichts gemerkt hat. Als der Zug anfährt, bleibe ich am Gleis stehen, starre auf eine grell in der Sonne leuchtende Granitfläche und versuche, nicht nachzudenken.
Zwei Tage später breche ich erneut auf.
»Ich brauch’ ein bisschen Ruhe«, behaupte ich Montserrat gegenüber. Ein paar Tage in der Sonne, am Mittelmeer. Der Herbst in X sei ja fast so grau wie in Deutschland. Ich werde mir irgendwo ein Zimmer mieten, ich wisse noch nicht, ob an der Küste oder im Landesinneren. Aber dafür habe man schließlich ein Auto. Um spontan sein zu können.
Ich nehme die Mautautobahn, die an der Küste entlang führt, und biege kurz vor der französischen Grenze Richtung Südosten ab: AUTOVÍA DE MONTAÑA steht auf einem blauen Schild, die Straße, die an Montserrats Dorf vorbeiführt. Von einem Pass aus sehe ich die Ortschaft noch einmal für einen Moment rechts unter mir liegen. An der Bergkette hinter dem Dorf hängen schwere, graue Regenwolken. Unwirkliches Morgenlicht wie auf einem naturalistischen Gemälde. Auf den gegenüberliegenden Hängen arbeiten Bauern mit kleinen Traktoren, sie ernten Farn, der hier als Streu für das Vieh benutzt wird. Dann führt die Autobahn aus der Berglandschaft heraus, geradewegs auf die Stadt zu, die von den einen nur Pamplona, von den anderen ausschließlich Irunea genannt wird. Mit Montserrats Vater bin ich die Strecke oft frühmorgens gefahren. Er kaufte auf dem Großmarkt Obst für seinen Laden ein. Auf der Fahrt sprach er über die Heuernte, das Saisongemüse und sein Leben als Schmuggler. Nach dem Bürgerkrieg, als die republikanischen Provinzen mit Strafzöllen belegt wurden und die Regierung in Madrid Lebensmittel nach Nazi-Deutschland exportierte, verlegte er sich wie viele Nachbarn aufs Schmuggeln, denn ihr Dorf lag genau an der Grenze zwischen »nationaler« und
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