Der Biss der Schlange: Thriller (German Edition)
nicht da.
Nur Dunkelheit, und als sich Shapers Augen daran anpassten, erkannte er beklommen unzählige Winkel und Nischen. Zerbrochene Fenster, gesplitterte Bretter.
Verstecke .
Sekunde für träge Sekunde verflüchtigte sich seine wilde Freude in größeren Stücken. Zurück blieben allein schmerzende Muskeln, pulsierendes Blut und die rotierenden Sinnesüberreizungen der Krankheit. Die Schatten schienen zu kriechen und sich zu winden, seinen Gleichgewichtssinn durcheinanderzubringen. Und als der rauschende Strom des Adrenalins langsam verebbte, ging ihm flüsternd eine Frage durch den Kopf, die er sich schon zu Beginn hätte stellen sollen: Was hast du eigentlich vor, wenn du ihn stellst, du Genie?
Er tastete nach seinem Messer.
Das hast du fallen gelassen, schon vergessen?
Wichser.
Er versuchte, die Erschöpfung zu ignorieren, die Zweifel, die schleichenden Ängste. Er klammerte sich an die letzten zerklüfteten Fetzen seiner Entschlossenheit und starrte nacheinander in jeden Schatten des Flickwerks, in jede unheimliche Nische, hielt Ausschau nach einer Bewegung, die nicht seiner eigenen Psyche entsprang.
Nichts.
Und so rückte er zögerlich weiter vor. Seine Knöchel klopften auf das weiche Holz des nächstgelegenen Schuppens, als wolle er eine in der Stille selbst lauernde Bedrohung austreiben.
»Komm schon«, sagte er laut. »Es gibt keinen Ausweg mehr. Du kannst dich genauso gut zeigen.«
Ein Name stahl sich in seinen Mund und schillerte mit der Aura einer Ahnung, die wahr geworden war. Shaper fühlte sich leicht verblüfft darüber, wie leicht – wie mühelos – sich sein heimlicher Verdacht erhärtet hatte.
Die Telefonanrufe … die Vorgeschichte … der zappelige, durchgeknallte kleine Scheißer …
Bevor er es verhindern konnte, drang es aus seinem Mund und hallte durch den Nieselregen.
»Karl. Bitte, Kumpel …«
Ausgesprochen schmeckte der Name richtig.
Aber immer noch herrschte tiefe Stille.
Er erreichte die erste Kluft und kam zum Stehen: ein düsterer Winkel, halb hinter einer Plane verborgen. Shaper stählte seine Nerven und riss die Plane mit einem Ruck und einem Aufschrei weg, die Hände kampfbereit erhoben.
Leer.
Der zweite mögliche Kandidat – eine flache Aussparung an der Vorderseite einer kompakten Baracke; zu klein, um Furcht aufkommen zu lassen – erwies sich als Blindgänger. Und das dritte mögliche Versteck brachte nur eine Asselsippe und einen Regenwurm zutage, als er mit einem wuchtigen Tritt die davorlehnende Spanplatte wegschleuderte.
Dann sah er es. Ein Schatten in den Schatten, ein mattschwarzer Schemen, nicht dunkler als seine Umgebung und doch irgendwie eigenständig, geduckt in einem halb verdeckten Kanal neben einer Kiste voller Split. Und er bewegte sich.
Ein Stich durchzuckte Shapers Herz. Seine Augäpfel pochten in Einklang mit seinem Puls, und er biss die Zähne so fest zusammen, dass sie schmerzten. Langsam trat er vor, beobachtete, wie sich der Schemen bewegte und zitterte, ignorierte das Summen von Fliegen, den Gestank von Schwefel …
Nicht real … wahrscheinlich.
»He«, sagte er.
Der Schatten zuckte, raschelte und klickte .
»He.«
Er holte tief Luft, streckte eine Hand aus, die Finger krampfhaft versteift, und fasste in die Dunkelheit.
Ein explosionsartiger Angriff.
Dämonisches Geschrei.
Der Ansturm erfolgte so jäh und wild, dass Shaper auf dem Rücken landete und mit den Händen das Gesicht bedeckte, als schwarze Federn hektisch flatterten und eine Kreatur aus der Hölle kreischend in die Nacht aufstieg.
Eine lange Weile lag er da.
»Eine Krähe«, stieß er schließlich hervor. »Scheiße.«
Verdammte Vögel .
Erst nachdem er die letzten paar möglichen Verstecke überprüft hatte – die sich alle als verwaist erwiesen – und als er mit einem schuldbewussten Anflug von Erleichterung gehen wollte, kam ihm der Gedanke, zu überprüfen, worauf der Vogel eingehackt hatte. Als er zu der Stelle zurückkehrte, flatterte die Krähe ein zweites Mal davon und hatte etwas Langes und Fahles im Schnabel. Als Shaper mit durchnässten Knien auf dem Asphalt hinter der Splitkiste suchte, fand er nur eine leichte Spur von Wachsbrocken – desselben Wachses wie an seiner Tür. Und als er den Weg zurück zu Merlins Atelier antrat, geistig völlig ausgelaugt, schaute er einmal über die Schulter zurück und glaubte, in weiter Ferne auf der anderen Seite des Flusses ein Aufblitzen von Gold und Blau in einem unruhigen Schatten
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