Der Biss der Schlange: Thriller (German Edition)
aber jedes Mal klingelte das Telefon lange verschwitzte Minuten, bevor die Leitung in den hoffnungslosen Abgrund der Mailbox stürzte. Die quasselnden Mädchen zogen von dannen, um die nächtliche Arbeit fortzusetzen, verdrossen über sein Desinteresse. Shaper ließ sich in einem in Violetttönen gehaltenen Zimmer auf ein Bett sinken, um nachzudenken. Abwesend tastete er nach den Schlüsseln des Vans und wappnete sich dafür, quer durch die Stadt zur Klinik zu rasen, um sie zu retten …
Aber er ahnte bereits, dass es nutzlos wäre.
Mittlerweile hatte ihn die Krankheit überwältigt.
Genährt von seiner Angst hatte das Zittern von seinem gesamten Körper Besitz ergriffen wie ein aufsässiger, zappelnder Geist, der sein Herz bei jedem zweiten Schlag beinahe aussetzen ließ. Die Halluzinationen entrissen sich seinem kümmerlichen Halt und tünchten seine Realität in ein Flickwerk aus Schwingungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit.
Du konntest sie nicht retten. Du konntest niemanden retten!
Da sah er Anna vor sich – wie sie vor fünf Jahren in einem Krankenhausbett verblutete. Ihre Muskeln entspannten sich, ihre Hände wurden schlaff. Und er sah Mary, als wäre sie irgendwie ein Teil derselben Erfahrung; wimmernd, mutterseelenallein, als sich ihr das Monster nähert. Laternenlicht, feuchte Augen unter einer saphirblauen Hülle …
Zu spät.
Die gesamte Aufregung des Tages krachte rings um ihn herab, erfasste jeden einzelnen seiner Muskeln, und er stellte fest, dass er im Angesicht des Strudels aufeinanderprallender Fantasien und Erinnerungen erstarrt dastand und sich gegen seine eigene Nutzlosigkeit sträubte.
Oh Karl, Karl, du Scheißkerl …
Du hast mich wieder geschlagen, nicht wahr?
Im Wahnschleier seiner Sinne beobachtete er, wie der Dämon durch die Tür der Klinik huschte und Mary zu beschäftigt mitPacken war, um ihn zu bemerken. Vielleicht würde der Mörder heimtückisch das Schloss knacken oder durch ein offenes Fenster einsteigen. Oder – Scheiße – vielleicht würde er einfach klopfen, weil er in den Zuckungen seines wahnsinnigen Gehirns überzeugt davon war, dass dank der Macht der Hand des Ruhms alles magisch sei, bevor er kichernd das Messer zog.
Shaper sah eine Operation. Er sah Skalpelle, die sich aus der knisternden Vision erhoben, grüne Roben und Leinenmasken, die sich in Marys Todesszene drängten und den Schleier zu einem anderen Traum hoben. Er sah elektrische Leitungen an weißen Maschinen und hörte, wie das künstliche Piepen eines schlagenden Herzens in einen durchgehenden Ton überging. Anna, die mit Lügen in den Ohren starb. Mary, die ihn dafür verfluchte, zu langsam gewesen zu sein.
Ein Verlust, der in einen anderen verlief. Ein Tod, der einen zweiten zeugte.
Shaper spürte etwas Heißes im Mund und erkannte, dass er sich in die Innenseite der Wange gebissen hatte. Er konnte nicht damit aufhören, daran zu kauen. Die Schmerzen fühlten sich irgendwie sauber an.
Wirst du sie zur Schau stellen, Karl, wenn sie tot ist? , fragte er sich.
Annas Beerdigung hatte er versäumt. Komatös, halb wahnsinnig, angewidert von seinem Versagen und den Lügen, die es verursacht hatten.
Was werde ich vorfinden, Karl? Welches raffinierte Kunstwerk wirst du mir hinterlassen, wenn du damit fertig bist, deine eigene Schwester zu töten?
Sämtliche Fotos, die er von Anna je besaß, hatte er weggeworfen, sogar die körnigen Ultraschallaufnahmen. Zu viel, um es zu ertragen, sogar später, als die Drogen gut funktionierten.
Wie lange wirst du dafür brauchen, sie sterben zu lassen, Karl?
Das EKG, das mit Videospielgeräuschen seiner letzten, durchgehenden Note entgegenhickst.
Marys Herz … wild hämmernd vor Angst, mit jedem Schnitt des Messers langsamer werdend, auf Stille zusteuernd … Pochen. Krachen. Hämmern an …
»Mr. Shaper?«
Er erwachte mit einem Aufschrei, trat mit den Beinen aus – ihm war nicht bewusst gewesen, dass er eingedöst war – und spürte, wie aus einer fernen Welt Bordellgeräusche einsetzten. Die Zimmertür war geschlossen – Wie lange habe ich bloß geschlafen? –, und jemand klopfte laut daran.
»J-ja?«, stammelte er unvermindert panisch.
Mrs. Swanson schob sich durch einen vorsichtig geöffneten Spalt. »Tut mir leid, Sie zu stören, aber …« Sie wirkte besorgt.
»Was ist?«
»Na ja, draußen … draußen ist eine Frau. Sie stapft im Regen auf und ab.«
»S-sie stapft?«
»Also, hauptsächlich flucht sie. Und …
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