Der Biss der Schlange: Thriller (German Edition)
menschliche Gestalt – einen schlafenden König auf einem gekritzelten Thron. Entlang des Rumpfes hatte Marys Mutter ordentliche kleine Wirbel gemalt, jeden mit einer eigenen Farbe, und neben jedem schwebten ein Symbol und ein Name in westlicher Schrift. Svadhisthana, Vishuddha, Sahasrara …
Gähn.
Nur flog seitlich an jeden der Chakrenpunkte ein giftig roter Pfeil heran, so überladen mit wirren Mustern, dass sich unmöglich sagen ließ, was fremdartige Schriftzeichen und was lediglich Schnörkel waren. Die Spitze jedes Schafts bohrte sich in ihre Zielspirale und strahlte kleine Kommata aus, die wie Schockwellen rings um den Kopf eines Comichelden anmuteten. Noch seltsamer war, dass unter der Sitzfläche des Stuhls zwischen den Beinen der Gestalt eine eingerollte Schlange mit rubinroten Augen lag, gemustert mit einer kindlichen Reihe von Streifen und Karos.
Und ein letztes Detail, beinah unerträglich derb neben den sonstigen sorgsam gezeichneten Einzelheiten: dicke Metallbänder, gemalt mit klecksigem Silberstift, über den Hand- und Fußgelenken der Gestalt.
Fesseln.
Im Bordell, wo aus dem Nebenzimmer gedämpftes Stöhnen ertönte, während sich Mary leise für sich mokierte und Shaper auf der Seite vor sich irgendetwas Geheimnisvolles und Krankes geplant sah wie ein verrücktes Experiment, brauchte er alle Kraft, um nicht zurück zu jener schaurigen Vision aus dem Keller in Thornhill geschleudert zu werden.
Das brodelnde weiße Rauschen. Das Opfer – schreiend, an den Armlehnen kratzend.
Die Kapuzengestalten mit ausgestreckten Armen …
Er biss sich auf die bereits verwüstete Innenseite der Wange, die immer noch nach Eisen schmeckte, und richtete den Blick wieder auf das Papier. Da fiel ihm eine winzige Textpassage auf, die unter der Zeichnung prangte.
Erwecke die Schlange.
Reinige die Unreinen.
Desinfiziere die Infizierten.
(Entfessle die Schönheit.)
Schniefend senkte er das Buch und betastete nachdenklich mit der Zunge die Wunde in seinem Mund.
»Das«, meinte er, »ist unheimlich.«
»Verdammt noch mal, lies es einfach, ja?« Mary starrte finster vor sich hin, während Regenwasser an ihr herabtropfte.
Die nächste Seite wies eine Überschrift aus kunstvollen Serifen auf, dreimal unterstrichen wie ein neues Kapitel: »Die Behandlung«. Der Text darunter war enger geschrieben, und in den Tonfall schlich sich eine neue Ernsthaftigkeit.
Mittlerweile zuversichtlich: Wirksamkeit des Vorgangs über jeden Zweifel erhaben. Stimulation spezieller Bereiche kann gegenseitig (isoliert) nachgewiesen werden. Wir zögern noch, über mehr als zwei oder drei geöffnete Loci in einer Sitzung hinauszugehen – (Schmerzen sind intensiv) – aber Methodik = solide.
Niemand erwartet, dass es einfach ist. Niemand wird jetzt noch aussteigen.
… haben endlich unseren Kandidaten. Wirt für das erste Wunder. In näherem Umfeld, als wir uns je vorgestellt hätten. Ich bete für ihn, dass es funktioniert. Es wird . Es muss .
… Behandlung letztlich weit einfacher, als wir erwartet haben. Es wird lediglich darum gehen, Mantras aufzusagen, Hände aufzulegen, Willenskraft einzusetzen. Jeder = Meister eines Knotenpunkts. Zusammen? Was für ein ruhmreicher Kreis! Wir müssen unsere Entschlossenheit gegen Weinen/Flehen stärken.
Entdeckungen, zahlreich und schnell. Gemeine Natur der Chakren, unsere Offenbarung! Jedes wie die Pforte einer Festung: Öffnet sich nur von innen . Aber, selbes Bild: Kann von außen eingeschlagen werden .
Nummer 1 hat heute Zweifel geäußert – Skrupel, wird schwach. SG hat schlichtend eingegriffen: »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.« Wie wahr. (Wagnis für Versuchsperson = Gewinn für die Welt.)
Prozess wird an der Wurzel beginnen. Die Kundalini soll erwachen.
Jede Phase stimmt nacheinander in den Chor ein. Jede Tür wird von ihrem eigenen Meister aufgestoßen. Keine Pause, kein Verschnaufen. Geschätzte Dauer der Behandlung wird mehrere Stunden betragen – niemand von uns weiß es mit Sicherheit.
… der kleine Gott wird herausgelockt.
Kosmische Ejakulation.
Shaper starrte mit hochgezogener Augenbraue auf die letzte Zeile. »Toller Name für eine Band wäre das.«
»Was?«
»Nichts.«
Er stellte fest, dass er beinahe das Ende der kommentierten Abschnitte erreicht hatte. Auf die vorletzte Seite, kurz vor dem Beginn des unberührten Papiers, war ein Stern mit sieben Zacken gezeichnet worden. Jede der Spitzen wies einen unebenmäßigen Kreis aus schwarzer Tinte auf, orange
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