Der Biss der Schlange: Thriller (German Edition)
Ihr Hintergrund, ihr Fachgebiet … Wie hätte sie es nicht erraten können? Und dann, als mein Vater sie anwies, nicht die Polizei einzuschalten … Ja. Ich bin sicher, sie hat es durchschaut.«
Die Frau schien eine Unterhaltung mit sich selbst zu führen. Shaper blinzelte, konnte ihr nicht folgen. Neben ihm beugte sich plötzlich Tal dicht zu ihm und flüsterte in die Härchen an seinem Nacken.
»Dan …«
Er ignorierte den Jungen und beobachtete stattdessen, wie Sandras Haltung gleich einer Krankheit zurückkehrte und wieder Autorität in ihren wilden Blick Einzug hielt.
Herrscher; Untergebener.
»Jener Tag draußen vor der Küche«, flüsterte sie. »Erinnern Sie sich daran? An dem Tag habe ich sie gefeuert. Fossey hat auf halbem Weg die Zufahrt hinunter gewartet. Ha , Sie müssen direkt an ihm vorbeigekommen sein. Und als sie ging, hat sie gesagt, sie würde Sie anrufen, oder? Sie meinte, sie würde mit Ihnen in Verbindung bleiben. Sie glaubte, sie müsse mit Ihnen reden.«
»Und?«
»Die kleine Schlampe hätte alles verdorben. Bevor ich Gelegenheit gehabt hätte, es zu … zu …«
Die Frau verstummte und starrte liebevoll auf den runzligen Hautlappen. Dann setzte sie die Klinge mit einem unverhofften Anflug von Bösartigkeit jäh und heftig unter Glass’ Kinn an. Shaper spürte, wie sich Marys Körper neben ihm versteifte.
»Zu vollenden«, stieß Sandra seufzend hervor.
Dann murmelte sie wieder dem grausigen Skalp zu, als wäre inzwischen nichts geschehen.
In der verwirrten Stille rückte Tal erneut näher und ergriff Shapers Arm. »Dan, bitte, ich mache mir Sor…«
Mary explodierte. »Miststück!«, kreischte sie und ließ damit alle zusammenzucken. »Scheiß auf deine beknackte Methodik!«
Shaper hielt sie erneut zurück, verblüfft von der Gewalt ihres Wutausbruchs. »Mary«, warnte er sie vorsichtig, den Blick auf die Klinge gerichtet. Sie schenkte ihm keine Beachtung und zeigte mit einem Finger auf Glass.
»Dieser Rachefeldzug ist Bullshit, Sandra! Was immer Sie glauben, dass er getan hat, er hat es vergessen! Er ist krank! Sie können ihn nicht bestrafen!«
Sandra starrte sie nur mit verschleiertem Blick an.
»Fossey ist weg!«, spie Mary ihr entgegen. »Was für eine bescheuerte Vergeltung Sie auch vorhaben, was immer die ihm damals angetan haben mögen, es wird sich nichts mehr ändern!« Mittlerweile knickte sie ein, konnte ihre Wut nicht länger aufrechterhalten. Ihr Elend brach durch den Zorn hervor. »Und … was immer Karl Ihnen angetan hat, wie sehr er Sie auch verletzt haben mag …« Das erste Schluchzen zerteilte den Satz. »N-niemand verdient so etwas …«
Damit versank sie in tränennassem, gebrochenem Schweigen.
Und in Shapers Wahrnehmung kroch etwas widerlich Süßes, verschlagen wie der Blick eines Reptils, über Sandras Gesicht.
Ein Lächeln .
»Ihr habt ja alle eine so geringe Meinung von mir«, sagte sie.
Mary hörte ihr kaum zu, während sie in der Dunkelheit schluchzte. Sandra wackelte eindringlich mit dem Skalp, um ihre Aufmerksamkeit wachzurütteln. »Karl hat mich nie vergewaltigt, Schätzchen, klar? Ich hab geflunkert. Fühlst du dich jetzt besser?«
Freddie stöhnte in der Düsternis. Sandra brachte ihn mit einem leisen »Pst!« zum Verstummen, ohne das Lächeln von dem Fleischfetzen in ihrer Hand zu lösen, und aus den Tiefen ihres durchtriebenen Gesichtsausdrucks geriet in Shapers Verstand ein Staubkorn ins Rollen, an dem sich unterwegs mehr und mehr Scheiße ansammelte …
»Es geht gar nicht um Rache«, flüsterte er. »Richtig?«
Sandra grinste nur.
»Worum dann?«, fragte Mary heiser und richtete sich aus ihrer gebückten Haltung auf.
Shaper nickte in Richtung des Skalps. »Sie wiederholen die Behandlung«, sagte er leise. »Eine Abkürzung zur ihrer Scheißreinheit.«
Sandra verneigte sich beglückwünschend vor ihm.
Dann hustete Vince. Shapers Blick schwenkte jäh zur Seite, und endlich – oh Gott – sah er, worauf ihn der arme Tal die ganze Zeit aufmerksam zu machen versucht hatte.
Von den Lippen des großen Kerls tropfte Blut.
Shaper verstand sofort, dass kein Grund zur Sorge bestand, weil sich der Ochse bloß im Dämmerzustand der Narkose auf die Zunge gebissen hatte – kenne ich zur Genüge –, aber in Talvir, im betrogenen, verletzten, von Liebeskummer gezeichneten Talvir herrschte nur Angst.
»Sie hat ihm eine Scheißüberdosis verpasst!«, schrie der Junge auf, schüttelte Shapers halbherzigen Griff ab und
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