Der Biss der Schlange: Thriller (German Edition)
Hintern. Shaper versuchte, sich auf ihr Verhalten zu konzentrieren. Sein erster Eindruck, dass Glass’ Tochter sich unwohl zu fühlen schien, bestätigte sich rasch. Er ging dazu über, sie sich inmitten einer unpersönlichen Wolke aus Spiegelglas und Metall vorzustellen; umgeben von einer sie umkreisenden Riege von Radartäuschkörpern, die etwas Zerbrechlicheres, aber Herzliches tarnen oder verschleiern sollten.
Als er sie eingangs gefragt hatte, ob er und sein »Sicherheitsberater« – ha! – sich umsehen durften, um alles optimal für Glass’ Aufenthalt vorzubereiten, hatte nur der undurchdringliche »äußere« Aspekt der Frau darauf reagiert. Sie führte die beiden Männer ungefähr so lustlos herum wie eine Reiseleiterin,die unbezahlte Überstunden schieben muss. Aber zwischen den zugeknallten Türen und den teilnahmslos vorgetragenen Banalitäten – »Dieser Kamin ist noch im Originalzustand« oder »Hier hat 1865 der Premierminister geschlafen« – kam in Andeutungen und verstohlenen Seufzern die sanftere Sandra zum Vorschein. Irgendwann schien es, als würden sich ihre Kraftfelder der schieren, gnadenlosen Weitläufigkeit des Gebäudes geschlagen geben – in dessen atemberaubenden Räumen zu neunundneunzig Prozent zentimeterhoher Staub lag –, und die Frau erschlaffte, ließ die Arme über die Brüstung eines Treppenabsatzes im zweiten Stock hängen.
»Die Wahrheit ist«, gestand sie, »dass ich es hier eigentlich hasse.«
Sie betrachtete die Wände ringsum mit so abrupter Wehmut, dass Shaper sogar einen mitfühlenden Blick von Vince entdeckte – einem Mann, der berühmt für seine Blindheit gegenüber Gefühlszuständen war.
»Sie hassen es?«, hakte er nach. »Wieso das?«
»Oh, es ist … es ist zu groß. Einsam. Und Freddie kann nichts davon genießen. Vierundzwanzig Hektar Wald – eigentlich ein Traum für jedes Kind, oder?«
»Ich … denke schon, ja.«
»Er kann nicht einmal länger als eine Minute aufstehen.«
Einen Moment lang glaubte Shaper, sie würde vielleicht zu weinen anfangen. Es schien, als besäße sie nur zwei emotionale Einstellwerte – respekteinflößend oder hilflos, ohne Abstufungen dazwischen.
»Nachts ist es kalt«, sprudelte es aus ihr hervor. »Es dauert Stunden, bis die Heizung greift. Mäuse wuseln herum. Und andauernd knarrt irgendwo irgendetwas. Ich hasse es.«
Als es danach aussah, dass unweigerlich die ersten Tränen von ihren Wimpern kullern müssten – und Shaper auffiel, dass Vince sichtlich in den Tröstermodus schaltete –, blinzelte sie plötzlich und bekam sich in den Griff. »Ich sollte mich nicht beschweren«,meinte sie dramatisch tapfer. »Wir dürfen hier kostenlos wohnen – mein Vater ist sehr großzügig. Ich … ich wünschte nur, wir wären etwas näher am Geschehen, verstehen Sie?« Sandra nickte durch ein riesiges Fenster hinaus. »Es dauert eine geschlagene Stunde, bis man irgendwo ist. Und die meisten meiner Klienten wohnen in London.«
»Was machen Sie denn?«, stürzte sich Vince auf die Gelegenheit, sie in ein Gespräch zu verwickeln.
»Ich … Tja.« Sie setzte ein verschämtes Lächeln auf und zuckte mit den Schultern. »Sex. Ich bringe Leute dazu, Sex miteinander zu haben.«
Entwaffnet blinzelte Vince, und Sandra kicherte beinah. Mit einem aufrichtigeren Lächeln bedeutete sie ihnen weiterzugehen. »Hier entlang.«
Shaper trottete entsetzt hinterdrein und wagte, das Undenkbare zu denken.
Flirtet sie etwa mit ihm, verfluchte Scheiße?
Im weiteren Verlauf des schleppenden Rundgangs erklärte ihnen die Frau ihre Tätigkeit näher. Sie arbeitete als spezialisierte Beraterin, besuchte Paare, die eine Krise durchlebten, und unterstützte sie dabei, zurück zu einer liebevollen, bedeutungsvollen Partnerschaft zu finden.
»Indem Sie sie zum Ficken bringen?«
»Sie würden sich wundern«, erwiderte sie und zog es plötzlich verdächtig oft vor, sich an Vince zu wenden, »wie oft die größeren Probleme in Wahrheit aufs Schlafzimmer hinauslaufen. Ich weiß, ich weiß, das klingt verdammt männlich , wenn man es so ausdrückt, aber es stimmt. Und meist ist es nur Tabuisierung, die den Weg versperrt.« Sie wackelte lehrmeisterhaft mit dem Finger. »Die Libido eines Menschen ändert sich – das ist nun mal so. Dasselbe gilt für den Geschmack, für die Vorlieben von Menschen. Aber sie reden einfach nicht darüber! Sie fressen es in sich hinein, tun so, als wäre alles in Ordnung, und können nicht verstehen,
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