Der blaue Express
Monsieur Van Aldin. Man hat nichts Belastendes gefunden. Das war auch nicht zu erwarten. Der Comte de la Roche ist, wie Ihre schöne Wendung sagt, nicht von gestern. Er ist ein listenreicher Gentleman mit großer Erfahrung.»
«Weiter», knurrte Van Aldin.
«Es ist natürlich möglich, dass der Comte nichts Belastendes zu verbergen hatte. Wir dürfen aber die Möglichkeit nicht außer Acht lassen. Wenn er also etwas zu verbergen hat – wo ist es? In seinem Hause nicht – die Polizei hat gründlich gesucht. In seinen Taschen sicher auch nicht, denn er muss jeden Augenblick damit rechnen, verhaftet zu werden. Es bleibt – sein Auto. Wie gesagt, er wurde beschattet. Man ist ihm nach Monte Carlo gefolgt. Von dort fuhr er nach Menton. Sein Auto ist sehr stark, er hat die Verfolger abgeschüttelt, und etwa eine Viertelstunde lang haben sie ihn vollkommen aus den Augen verloren.»
«Und Sie meinen, in der Zwischenzeit hat er etwas am Straßenrand versteckt?», fragte Van Aldin mit gespanntem Interesse.
«Am Straßenrand, nein. Pa n’est pas pratique. Aber hören Sie zu – ich habe Monsieur Carrège einen kleinen Vorschlag gemacht. Er war so freundlich, ihn zu billigen. In jedem Bureau de Poste in der Umgebung hat man dafür gesorgt, dass jemand dort ist, der den Comte de la Roche vom Sehen kennt. Denn wissen Sie, Monsieur, die beste Art, etwas zu verstecken, ist, es mit der Post wegzuschicken.»
«Und?», fragte Van Aldin, sein Gesicht leuchtete vor Interesse und Erwartung.
«Und – voilà!» Mit einem dramatischen Schwung zog Poirot ein lose eingewickeltes braunes Päckchen aus der Tasche, die Schnur hatte man entfernt.
«In der erwähnten Viertelstunde hat unser guter Gentleman das hier aufgegeben.»
«An welche Adresse?», fragte der andere scharf.
Poirot nickte.
«Hätte uns etwas sagen können, sagt uns aber leider nichts. Das Päckchen war an einen dieser kleinen Zeitungsläden in Paris adressiert, wo Briefe und Pakete bis auf Abruf gegen eine kleine Gebühr aufbewahrt werden.»
«Ja, aber was ist drin?», fragte Van Aldin ungeduldig.
Poirot entfernte das Packpapier und enthüllte eine viereckige Pappschachtel. Er sah sich um.
«Der Augenblick ist günstig», sagte er ruhig. «Alle Augen sind beim Tennis. Sehen Sie, Monsieur!»
Er hob den Deckel der Schachtel den Bruchteil einer Sekunde lang. Ein Ausruf äußersten Erstaunens entfuhr dem Millionär. Sein Gesicht wurde kreidebleich.
«Mein Gott!», stieß er hervor, «die Rubine.»
Einen Augenblick lang saß er wie betäubt. Poirot steckte die Schachtel wieder in die Tasche und strahlte gelassen. Dann schien der Millionär plötzlich aus seiner Erstarrung zu erwachen, er beugte sich zu Poirot und drückte dessen Hand so herzhaft, dass der kleine Mann vor Schmerz stöhnte.
«Das ist großartig», sagte Van Aldin. «Großartig! Sie liefern, was Sie versprechen, Monsieur Poirot. Ein für alle Mal, Sie bringen’s!»
«Es ist nichts», sagte Poirot bescheiden. «Ordnung, Methode, auf Eventualitäten gefasst sein – mehr gehört nicht dazu.»
«Und nun hat man den Comte de la Roche verhaftet, nehme ich an?», fuhr Van Aldin eifrig fort.
«Nein», sagte Poirot.
Höchstes Erstaunen zeigte sich auf Van Aldins Zügen. «Aber warum nicht? Was will man denn noch mehr?»
«Das Alibi des Comte ist noch immer unerschüttert.»
«Aber das ist Unsinn!»
«Ja», sagte Poirot, «ich halte es auch eher für Unsinn, aber leider müssen wir beweisen, dass es Unsinn ist.»
«Und unterdessen rutscht er uns durch die Finger!»
Poirot schüttelte sehr energisch den Kopf.
«Nein», sagte er, «das tut er nicht. Das Einzige, was der Comte zu opfern sich nicht leisten kann, ist seine gesellschaftliche Stellung. Er muss um jeden Preis bleiben, wo er ist, und sich auf seine Frechheit verlassen.»
Van Aldin war noch nicht zufrieden.
«Ich sehe aber nicht ein…»
Poirot hob eine Hand. «Einen Augenblick, Monsieur. Ich habe eine kleine Idee. Viele Leute haben sich schon über Hercule Poirots kleine Ideen lustig gemacht – und sich geirrt.»
«Also», sagte Van Aldin, «reden Sie weiter. Was ist das für eine kleine Idee?»
Poirot schwieg einen Augenblick, dann sagte er:
«Ich suche Sie morgen Vormittag um elf in Ihrem Hotel auf. Bis dahin sagen Sie nichts, zu niemandem.»
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Monsieur Papopoulos frühstückt
M onsieur Papopoulos frühstückte. Ihm gegenüber saß seine Tochter Zia.
Es klopfte an die Salontür, und ein Page trat
Weitere Kostenlose Bücher