Der blaue Express
dann – ich glaube nicht, dass sie den Comte verklagt hätte. Es wäre zu viel herausgekommen. Er hatte sicher etliche Briefe von ihr. O ja – vom Standpunkt des Comte aus war das ein ganz sicherer Plan – ein Gaunertrick, den er wahrscheinlich schon einmal versucht hat.»
«Ja, das klingt plausibel», sagte Van Aldin nachdenklich.
«Es passt zur Persönlichkeit des Comte de la Roche», sagte Poirot.
«Ja, aber…» Van Aldin blickte den anderen fragend an. «Was ist wirklich geschehen? Sagen Sie mir das, Monsieur Poirot.»
Poirot zuckte die Schultern.
«Ganz einfach», sagte er, «jemand ist dem Comte zuvorgekommen.»
Eine lange Pause trat ein.
Van Aldin schien gründlich zu überlegen. Als er weitersprach, kam er direkt zur Sache.
«Seit wann verdächtigen Sie meinen Schwiegersohn, Monsieur Poirot?»
«Von Anfang an. Er hatte Motiv und Gelegenheit. Alle sind davon ausgegangen, dass der Mann in Madames Abteil in Paris der Comte de la Roche war. Ich habe das auch angenommen. Dann haben Sie zufällig erwähnt, dass Sie den Comte einmal fast mit Ihrem Schwiegersohn verwechselt hatten. Dem entnahm ich, dass die beiden einander in Größe, Körperbau und Haarfarbe einigermaßen ähneln. Das hat mir ein paar seltsame Ideen eingeflößt. Die Zofe war erst seit kurzem bei Ihrer Tochter. Es war nicht wahrscheinlich, dass sie Mr Kettering gut vom Sehen kennt, da er ja nicht in der Curzon Street wohnt; außerdem hatte der Mann sorgsam das Gesicht abgewandt.»
«Sie meinen, er – hat sie ermordet?», sagte Van Aldin heiser.
Poirot hob schnell die Hand.
«Nein, nein, das habe ich nicht gesagt – aber es ist eine Möglichkeit – eine sehr plausible Möglichkeit. Er saß in der Klemme, einer bösen Klemme, vom Ruin bedroht. Hier gab es einen Ausweg.»
«Aber warum sollte er die Juwelen mitnehmen?»
«Damit es so aussieht, als wäre es ein gewöhnliches Verbrechen von Bahnräubern. Sonst wäre der Verdacht sofort auf ihn gefallen.»
«Wenn das so ist, was hat er dann mit den Rubinen gemacht?»
«Das müssen wir noch herausfinden. Es gibt mehrere Möglichkeiten. In Nizza gibt es einen Mann, der uns vielleicht helfen kann, der, den ich Ihnen beim Tennis gezeigt habe.»
Er stand auf. Auch Van Aldin erhob sich und legte dem kleinen Mann die Hand auf die Schulter. Als er sprach, war seine Stimme sehr rau.
«Finden Sie Ruths Mörder für mich», sagte er, «mehr verlange ich nicht.»
Poirot richtete sich auf.
«Überlassen Sie alles Hercule Poirot», sagte er mit großer Geste. «Keine Angst, ich werde die Wahrheit finden.»
Er bürstete ein Stäubchen von seinem Hut, lächelte dem Millionär beruhigend zu und verließ das Zimmer. Als er aber die Treppe hinabging, schwand einiges von der Zuversicht aus seinen Zügen.
«Alles schön und gut», murmelte er vor sich hin, «aber es gibt Probleme. Ja, es gibt große Probleme.» Als er das Hotel verließ, blieb er plötzlich stehen. Vor der Hoteltür war ein Auto vorgefahren. Katherine Grey saß darin, und Derek Kettering stand daneben und redete ernsthaft auf sie ein. Ein paar Minuten später fuhr der Wagen ab, und Derek blieb auf dem Pflaster stehen und sah hinterher. Er machte eine sehr seltsame Miene. Plötzlich hob er in einer unwirschen Geste die Schultern, seufzte tief, drehte sich um und sah Hercule Poirot unmittelbar vor sich. Unwillkürlich zuckte er zusammen. Die beiden Männer schauten einander an, Poirot ruhig und sicher, Derek mit einer Art lässiger Herausforderung. Als er sprach, hob er kaum merklich die Brauen, und unter dem lockeren Spott seines Tonfalls lag einiges an Schärfe.
«Reizendes Mädchen, nicht?», fragte er leichthin.
Sein Benehmen war ganz ungezwungen.
«Ja», sagte Poirot nachdenklich. «Das beschreibt Mademoiselle Katherine sehr treffend. Sehr englisch, Ihr Satz, und Mademoiselle Katherine selbst ist auch sehr englisch.»
Derek blieb völlig regungslos stehen, ohne zu antworten.
«Und dabei ist sie sympathique, nicht wahr?»
«Ja», sagte Derek, «von der Art gibt es nicht viele.»
Er sagte das ganz leise, wie zu sich selbst. Poirot nickte bedeutungsvoll. Dann beugte er sich zu Derek vor und sagte in einem anderen, einem ruhigen, ernsten Ton, der für Derek Kettering neu war:
«Sie werden einem alten Mann verzeihen, Monsieur, wenn er Ihnen etwas sagt, was Sie für dreist halten könnten. Es gibt da eines Ihrer englischen Sprichworte, das ich Ihnen gern zitieren möchte. Es lautet: ‹Mach Schluss mit der alten Liebe, ehe du
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