Der blaue Tod
Mathilda in der Küche hantierte, schaute sich Sören neugierig in der Wohnung um. Die zwei kleinen Zimmer waren spärlich möbliert. Auffallend waren nur die vielen Bücher, die auf einfachen Stellagen an den Wänden gestapelt standen. Sören überflog die Buchrücken und staunte. Es waren vor allem Titel, die noch vor wenigen Jahren auf dem Index der staatlichen Zensur gestanden hatten. Sören entdeckte verschiedene Werke von Friedrich Engels, Feuerbach und Eugen Dühring, Abhandlungen von Karl Marx über den Materialismus und die Proletarische Revolution sowie andere Autoren, die er dem Namen nach kannte, aber selbst nie gelesen hatte. Mit Hegel und Kant hätte er dienen können, aber diese Philosophen waren nur Deuter – die Mehrzahl der hier vertretenen Autoren forderte hingegen eine radikale Veränderung der Gesellschaft, so viel war ihm bekannt.
«Nicht dass du glaubst, das seien alles meine.» Mathilda war hereingekommen und stellte zwei Kaffeebecher auf den Tisch vor der Couch. Dann kam sie zu Sören. «Ein großer Teil davon gehört Tonio», erklärte sie. «Ichverwahre sie für ihn, da er zur Untermiete wohnt. Besser, wenn niemand sieht, was er liest.»
«Woher kennst du ihn?», fragte Sören und nahm auf dem Sofa Platz.
«Seine Frau hat mich damals für die ‹Rote Post› angeheuert. So nannten wir während der illegalen Zeit den Schmuggel von Manuskripten und verbotenen Satzvorlagen zwischen Berlin und der Schweiz, wo die Bücher gedruckt wurden», erklärte sie, nachdem Sören unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hatte, dass ihm der Begriff nicht bekannt war. Mathilda grinste spitzbübisch. «Als Musiker reist man unauffällig. Da kommt kein Verdacht auf. Ich habe damals sämtliche Druckvorlagen der Manuskripte von August Bebel in die Schweiz gebracht.»
Sören war ein Stein vom Herzen gefallen, als Mathilda erwähnt hatte, dass Antonio Rivera verheiratet war. So vertraut, wie sie miteinander umgegangen waren, hatte er im Stillen schon vermutet, die beiden könnten möglicherweise ein Paar sein. Erst jetzt fiel ihm auf, wie schwer ihn diese Vorstellung belastet hatte. Am liebsten wäre er Mathilda vor Erleichterung um den Hals gefallen.
«Und du?», fragte Mathilda. «Erzähl von dir.»
Sören zögerte, denn womit hätte er aufwarten können? Er war weder Parteimitglied noch bekennender Sozialdemokrat. Natürlich hielt er viele Denkansätze der Sozialisten prinzipiell für richtig, und was die Rolle der Frau in der Gesellschaft betraf, waren seiner Meinung nach tatsächlich große Veränderungen vonnöten. Er selbst war ja in einem Haushalt aufgewachsen, in dem man sehr liberal miteinander umgegangen war, auch wenn natürlich keine völlige Gleichberechtigung zwischen seinen Eltern geherrscht hatte. Sein Vater hatte ihm gegenüber einmal erwähnt, dass seine Mutter als junge Frau sogar Hosen getragen hätte – nicht in der Öffentlichkeit, sondern natürlich nur im Haus des Großvaters, wie Hendrik Bischop damals mit einem Schmunzeln hinzugefügt hatte. Sören beschloss, bei der Wahrheit zu bleiben. Er erzählte von seinen Mandaten und dass ein Großteil seiner Klientel aus der Arbeiterschaft stammte. Er erzählte von dem, was er die letzten zwei Tage über gesehen hatte, vom Elend und von den Zuständen im Haus am Borstelmannsweg, von seinem Besuch bei Hannes Zinken sowie vom Verdacht, dass sich gerade jetzt möglicherweise die Cholera in der Stadt ausbreitete. So vergingen die Stunden, und als Sören irgendwann auf seine Uhr schaute, war es bereits drei Uhr in der Frühe.
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Mobiler Desinfektionstrupp der Hamburger Desinfektionsanstalt vor dem Holstenthor.
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Die Arbeit in den Desinfektionskolonnen wurde mit einer täglichen Portion Schnaps entlohnt. Vor allem Arbeitslose und Vorbestrafte meldeten sich für diese Arbeit. Die Zahl der angezeigten Eigentumsdelikte durch Mitarbeiter der Desinfektion stieg daraufhin rapide an.
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Mitarbeiter der mobilen Desinfektionskolonne auf dem Hof der Desinfektionsanstalt vor dem Holstenthor, Fotografien 1892.
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Krankenkutsche des Hamburger Sanitätsdienstes (Stadtambulanz). Der Sanitätstrupp der Hamburger Polizei bestand Anfang August 1892 aus lediglich sechs Sanitätern.
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Krankenträger der Stadtambulanz vor einem Vierlieger. Die Anzahl der Krankenwagen wurde im Laufe des Jahres 1892 von ursprünglich 8 auf 30 erhöht. Fotografien nach 1892.
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