Der blaue Tod
Dachluke fiel ein Streifen gleißenden Sonnenlichts ins Zimmer. Er wischte mit dem Finger über den Fußboden. Den Spuren im Staub nach zu urteilen, war es noch keine Woche her, dass jemand die Wohnung betreten hatte.
Die hölzernen Dielen knarrten bei jedem Schritt. Steens Einrichtung war auf das Allernotwendigste beschränkt:ein Bett, ein kleiner Schapp, ein Stuhl und ein Tisch. Nirgends gab es Bücher, Unterlagen oder irgendwelche Schreibutensilien. Sören suchte die Zimmer nach möglichen Verstecken ab. Er prüfte die Bretterverschläge an den Wänden und untersuchte den Boden nach losen Dielen. Ergebnislos. Dann nahm er sich die Kleidungsstücke vor, die über der geöffneten Tür des kleinen Schapps hingen. Alle Taschen waren leer. Auch im Schrank selbst fand er nichts Außergewöhnliches. Der muffige Geruch, der ihm schon aufgefallen war, als er die Wohnung betreten hatte, stammte von einem Wäschehaufen in der Zimmerecke. Sören nahm die oberste Hose vom Stapel. Ein öliger Geruch stieg ihm in die Nase. Es war kein Schwer- oder Schmieröl, sondern ein feiner, fast blumenartiger Geruch, der an dem Stoff haftete. Sören überlegte, woher er den Geruch kannte, aber er konnte ihn nicht einordnen. Die anderen Kleidungsstücke rochen ähnlich.
Unter dem Wäschehaufen fand er schließlich zwei Postkarten aus Melnik. Der Absender war jener Albin, Steens Freund, der auf einem Kettenschiff auf der Elbe fuhr. Den Namen hatte Altena Weissgerber ja bereits erwähnt. Sören entzifferte das fast unleserliche Gekritzel, aber Albin hatte nur Belanglosigkeiten geschrieben. War es möglich, dass sich Marten Steen bei ihm einquartiert hatte? Aber das zu überprüfen machte keinen Sinn. Bis zum 22. August waren es nur noch vier Tage, und bis dahin würde Marten Steen wieder in der Stadt sein. Sören überlegte, wie lange man bis Melnik unterwegs war. Er schüttelte den Kopf. Melnik lag kurz vor Prag. Ein Kettenschiff war mit Sicherheit länger als vier Tage unterwegs. Er schob die Karten zurück unter den Stapel. Steen war nicht in Melnik. Er hielt sich bestimmtirgendwo hier in der Stadt versteckt. Es lag nahe, dass ihm dieser Gustav oder der Typ namens Ratte Unterschlupf gewährt hatte. Sören musste unbedingt herausfinden, was die beiden im Schilde führten.
Er wollte schon gehen, da vernahm er ein leises Knirschen unter seinen Füßen. Er bückte sich und inspizierte seine Schuhe. In das Leder der Sohlen hatten sich mehrere Steinchen gedrückt, die bei jedem Schritt auf dem hölzernen Fußboden knirschend zerbröselten. Steinchen? Nein. Bei genauerer Betrachtung erkannte er, dass es sich nicht um Steinchen, sondern um Reiskörner handelte. Er legte sich flach auf den Boden und suchte die Dielen nach weiteren Körnern ab. Dann untersuchte er die Regale neben der Kochstelle. Es gab einen Topf mit ranzigem Griebenschmalz, ein Glas Mehl und eins mit getrockneten Rosinen sowie eine Zigarrenkiste mit Zucker, an der sich wohl schon ein paar Mäuse versucht hatten, wie die Beißspuren verrieten. Ein Reisvorrat war jedoch nirgendwo zu entdecken.
Sören griff sich einen schmutzigen Strumpf vom Wäschestapel und schob ihn beim Verlassen der Wohnung hinter die fast geschlossene Tür. Es war mehr als unwahrscheinlich, dass er selbst den Reis mit in die Wohnung getragen hatte, und den Spuren im Küchenregal nach zu urteilen, gab es hier jede Menge Mäuse, wahrscheinlich auch Feuerwürmer und anderes Ungeziefer. Undenkbar also, dass die Reiskörner hier schon länger auf dem Boden lagen. So, wie es aussah, war hier vor nicht allzu langer Zeit jemand in der Wohnung gewesen. Das hatte Sören schon vermutet, als er die Spuren im Staub gesehen hatte. Er war gespannt, ob der Strumpf noch hinter der Tür lag, wenn er morgen noch einmal vorbeischaute.
Fräulein Paulina reichte Sören mit der restlichen Post auch einen Umschlag, den ein Bote am frühen Vormittag gebracht hatte. Der Junge habe nicht gesagt, wer ihn geschickt habe, erklärte sie auf Sörens Nachfrage, nur, dass Sören die Nachricht dringend erwarte. In dem Couvert steckte ein Brief, der akribisch in Druckbuchstaben verfasst worden war. Er brauchte nicht lange zu lesen, um zu wissen, wer ihn verfasst hatte. Die Nachricht war kurz und voller Schreibfehler. Entweder hatte Hannes Zinken nie eine Schule besucht, oder er hatte den Brief jemandem diktiert, der keine Schreibschrift gelernt hatte.
Zinken schrieb, seine Erkundigungen bezüglich der gesuchten Personen liefen auf
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