Der blaue Tod
begriff Sören, wo er hier gelandet war. Zuerst hatte er geglaubt, es handele sich um irgendein geheimes Treffen, aber die Namen Stolten und Dietz waren ihm natürlich ein Begriff. Beide gehörten zu den führenden Köpfen der Hamburger Sozialdemokraten, deren Parteizentrale hier ganz in der Nähe lag. Schon sein Vater hatte die Artikel, die Otto Stolten früher in der «Bürgerzeitung» geschrieben hatte, immer vortrefflich gefunden. Genau wie die «Gerichtszeitung» war das Blatt dann während der Sozialistengesetze verboten worden. Seit fünf Jahren hatte das «Hamburger Echo» dann die Funktion der Arbeiterbildung übernommen, und Stolten war Chefredakteur dieses sozialdemokratischen Blattes. Seine politischen Kommentare hatten nichts von ihrer Bissigkeit eingebüßt.
Über eine breite eiserne Treppe betraten sie einen Raum von hallenartigen Ausmaßen, und nachdem sich Sören umgeschaut hatte, war ihm auch klar, wo er sich befand. Dies musste das neue Gebäude des Druckhauses von Auer & Co. sein, wie sich die ehemalige Genossenschaftsbuchdruckerei zu Hamburg seit einigen Jahrennannte. Wo er auch hinblickte, standen Druckpressen, moderne Rotationsmaschinen und ganze Batterien von Papierrollen. Ursprünglich hatte die Druckerei ihren Standort an der Amelungstraße gehabt. Das alles erklärte natürlich auch die Anwesenheit von Heinrich Dietz, der die Druckerei während der Sozialistengesetze als Privatdruckerei geführt hatte, da man Privatbesitz nicht so leicht hatte beschlagnahmen können wie Parteieigentum. Ein geschickter Schachzug, er passte zu Dietz, der den zweiten Hamburger Wahlkreis für die Partei gewonnen hatte und die Stadt als sozialdemokratischer Abgeordneter im Reichstag vertrat.
Es mochten ungefähr hundert, vielleicht sogar zweihundert Personen im Raum sein. In der Mehrzahl Männer. Sören suchte die Reihen nach Fräulein Eschenbach ab, konnte sie aber nirgends entdecken. Was hatte sie hier nur zu suchen? Und wer war der Mann, in dessen Begleitung sie gekommen war? Sören nahm auf einer der Stufen, die zu einer seitlichen Galerie hinaufführten, Platz und beobachtete das Geschehen. Die Halle füllte sich zusehends, und nach etwa zwanzig Minuten gab es keine Sitzgelegenheiten mehr, sodass sich die Leute auf dem Fußboden niederlassen oder stehen mussten. Nachdem die eisernen Türen zur Halle geschlossen worden waren, stieg ein Sören nicht bekannter Mann auf den hohen Gittersteg einer der Druckmaschinen und begrüßte alle Anwesenden. Schlagartig kehrte Ruhe ein. Dann begrüßte man den Genossen Frohme, einen Sozialdemokraten aus Schleswig-Holstein, der extra für den heutigen Abend in die Stadt gekommen war. Tosender Applaus setzte ein. Der einführende Redner bat alle Anwesenden, soweit das möglich war, bis zum Schluss der Veranstaltung zu bleiben, da es am Ende noch zueiner Abstimmung kommen sollte. Dann übergab er das Wort an Karl Frohme.
Sören war freilich nur halb bei der Sache. Irgendwo musste Fräulein Eschenbach doch stecken. Soweit er es mitbekam, ging es bei Frohmes Rede vor allem um den Missstand, dass immer noch kein Sozialdemokrat in der Hamburger Bürgerschaft vertreten war, obwohl inzwischen alle drei Reichstagssitze der Stadt mit Abgeordneten aus den Reihen der Sozialdemokraten besetzt waren. Des Weiteren wurde von Frohme auch die seiner Meinung nach undemokratische Zusammensetzung des Hamburger Senats angeprangert, woraufhin es zu lautstarken Zwischenrufen kam.
Der Mann, der neben Sören auf den Stufen saß, packte eine Butterstulle aus und zog eine Flasche Bier aus einem Leinenbeutel, während er irgendetwas vor sich hin brummelte. Als Sören sich umblickte, konnte er erkennen, dass viele es dem Mann gleichtaten. Wahrscheinlich war man direkt von der Arbeit hierher gekommen und hatte noch keine Gelegenheit gehabt, etwas zu essen. Niemand der Anwesenden schien daran Anstoß zu nehmen. Als der Mann ihm die Flasche anbot, lehnte Sören freundlich dankend ab.
Auf Karl Frohmes Rede folgte abermals lang anhaltender Beifall. Danach breitete sich Unruhe im Raum aus. Wie es den Anschein hatte, gab es zwischen mehreren Anwesenden Meinungsverschiedenheiten, die lautstark diskutiert wurden, bis der vormalige Redner sich wieder auf den hohen Gittersteg schwang und erklärte, dass Dietz wohl nicht mehr kommen werde, da er in Berlin aufgehalten worden sei. Er verlas eine kurze telegraphische Nachricht, in der Dietz alle Genossen grüßte und versprach, dass er die nächste
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