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Der blaue Tod

Der blaue Tod

Titel: Der blaue Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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Gelegenheitwahrnehmen würde, um in die Stadt zu kommen. Einige Anwesende taten ihre Enttäuschung mit lauten Zwischenrufen kund, andere machten Anstalten, den Raum zu verlassen. Der Sprecher forderte die Leute mehrfach auf, doch zu bleiben, da man sich noch ein Meinungsbild verschaffen wolle, wie groß die Streikbereitschaft innerhalb der nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft sei, und erneut breitete sich Unruhe aus. Schließlich ergriff ein älterer Mann das Wort und erklärte, dass mindestens fünf Vorarbeiter anwesend wären, von denen er persönlich wüsste, dass sie in keiner Gewerkschaft wären. Er deutete auf einen gedrungenen Kerl, den er Eddie nannte, und forderte ihn auf, dazu Stellung zu nehmen. Von einigen Pfiffen und Buhrufen begleitet, erhob sich der Angesprochene widerwillig und erklärte, er könne nur für die Hafenarbeiter auf Steinwärder sprechen. Dort gebe es seiner Meinung nach zurzeit keinen wirklichen Zusammenhalt, was wohl vor allem daran läge, dass man bei den mehr als dreißig Ausständen während der letzten vier Jahre kaum wirkliche Erfolge hätte verbuchen können. Ein Zwischenrufer erinnerte daran, dass der letzte größere Streik im Hafen mehr als ein Jahr zurücklag und dass einige Forderungen sehr wohl durchgesetzt worden seien. Ein weiterer Anwesender bestritt das, woraufhin von neuem tumultartiger Lärm ausbrach. Alles redete durcheinander, bis erneut jemand das Wort ergriff und an den Streik der Gasarbeiter vor zwei Jahren erinnerte. Damals hatte man zwar viele Forderungen durchsetzen können, aber mit der späteren Übernahme des Betriebes durch die Stadt wären dann ganz andere Rahmenbedingungen geschaffen worden, weshalb die erkämpften Vorteile fast wertlos geworden seien. Gegenstimmenwurden laut. Als jemand meinte, die Situation der Arbeiter in der Gasanstalt habe sich seither gebessert, folgte ein regelrechtes Pfeifkonzert.
    Einigkeit schien zwischen allen Anwesenden nur darüber zu herrschen, dass man sich gegenüber der Bildung weiterer Zusammenschlüsse einzelner Betriebe kampfbereit zeigen müsse. Vor allem bei einigen Hafenbetrieben, vorwiegend Reedereien und Werften, sei es in letzter Zeit zu mächtigen Zusammenschlüssen gekommen, und die Rechte der Arbeitnehmer müssten gegenüber diesen Kartellen mit allen Mitteln verteidigt werden.
    Als jemand lauthals eine Abstimmung forderte, entdeckte Sören neben dem Rufer endlich Fräulein Eschenbach. Sie saß hinter einer der großen Maschinen am anderen Ende der Halle. Ihre schmächtige Figur war zwischen den kräftigen Arbeitern um sie herum kaum zu erkennen. Auf der anderen Seite neben ihr saß der Mann, mit dem sie gekommen war. Beide hatten ihre Instrumentenkoffer zwischen die Knie geklemmt und verfolgten aufmerksam die Debatte, aber wie es aussah, hatte auch sie ihn in diesem Moment gesehen. Als sich Sören dessen bewusst wurde, versuchte er zuerst, sein Gesicht zu verbergen. Plötzlich war es ihm unangenehm, dass er ihr hinterhergeschnüffelt hatte, aber für den Bruchteil einer Sekunde hatten sich ihre Blicke bereits getroffen, und sie schien keineswegs erbost über seine Anwesenheit zu sein. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war sie vielmehr erstaunt. Für einen Augenblick verharrte sie mit offenem Mund, dann winkte sie ihm lächelnd zu und machte auch ihre Begleitung auf Sören aufmerksam. Den weiteren Verlauf der Veranstaltung bekam Sören so gut wie nicht mehr mit. FräuleinEschenbach schien es ebenso zu gehen. Zumindest blickte sie fortwährend in seine Richtung.
    Während Sören am Ausgang auf sie wartete, überlegte er krampfhaft, wie er seine Anwesenheit bei dieser Veranstaltung begründen konnte, aber eine plausible Erklärung fiel ihm nicht ein. Vielleicht ging es ihr genauso. Er nahm sich vor, sie nicht danach zu fragen.
    Fräulein Eschenbach steuerte geradewegs auf ihn zu; immer noch in Begleitung des Mannes, mit dem sie gekommen war. «Alles hätte ich erwartet   …» Sie blickte Sören direkt in die Augen. «Mir fällt ein Stein vom Herzen.» Um ihre Mundwinkel zeichneten sich zwei lustige Grübchen ab, die Sören zuvor noch nicht aufgefallen waren. Es gab anscheinend so einiges an ihr, was er bislang übersehen hatte. «Wie hätte ich es dir sagen sollen?»
    Sören zuckte zusammen. Es war das erste Mal, dass sie ihn geduzt hatte. Ihre Stimme war sanft wie immer, und in diesem Moment breitete sich in seinem Körper wieder dieses warme Gefühl aus. Aber da war dieser Mann, der

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