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Der blaue Tod

Der blaue Tod

Titel: Der blaue Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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immer noch bei ihr stand. Was sollte er sagen? Mehr als ein verlegenes Grinsen bekam er nicht über die Lippen.
    «Ich hatte Angst davor. Wie dumm von mir.» Sie lachte. «Wie sollte ich denn wissen, dass du auch   …»
    «Ciao, Tilda», unterbrach sie ihr Begleiter, fasste sie am Arm und gab ihr einen freundschaftlichen Kuss auf die Stirn. «Wie du weißt, ich habe morgen früh wichtige Termin», sagte er mit stark ausländischem Akzent und nickte Sören flüchtig zu. «Buona notte.»
    «Bis morgen Abend, Tonio», erwiderte sie und wartete einen Augenblick, bis er um die Ecke gebogen war. «Antonio Rivera», klärte sie Sören auf. «Ein Kollege vonmir. Er stammt aus Italien. Wir kennen uns schon aus Berlin. Ein lieber Kerl   …» Sie blickte erwartungsvoll zu ihm hoch.
    «Was machen wir jetzt?», fragte Sören. Er überlegte, ob er ihr von seinem ursprünglichen Vorhaben berichten sollte, aber in dieser Situation erschien es ihm besser zu schweigen, denn seine Anwesenheit bei dieser Veranstaltung hatte auf einmal ein ganz anderes Gewicht bekommen.
    «Wie unter Genossen üblich, wirst du mich ab sofort bei meinem Vornamen nennen.» Sie lächelte ihn an. «Begleitest du mich noch das Stück nach Hause?»
     
    Wie selbstverständlich hatte sich Mathilda bei ihm eingehakt, und Sören war es sogar so vorgekommen, als hätte sie sich ein wenig an ihn geschmiegt, während sie die Colonnaden entlanggeschritten waren. Es musste bereits nach Mitternacht sein, aber die Luft war immer noch warm. «Es ist spät geworden», sagte Sören, nachdem sie ihr Ziel erreicht hatten.
    Mathilda kramte ihren Haustürschlüssel hervor. «Wenn du mit nach oben kommst, kann ich uns noch einen Kaffee aufsetzen», antwortete sie, während sie die Haustür aufschloss.
    Das war weit mehr, als Sören erwartet hatte. Es gab so viele offene Fragen.
    Mathildas Wohnung lag im Dachgeschoss. Wie auf Samtpfoten waren sie die vier Treppen nach oben geschlichen, und auch als Mathilda die Wohnungstür geschlossen hatte, wagte Sören nur zu flüstern. Herrenbesuch war für eine allein stehende Dame immer ein riskantes Unterfangen – zumal um diese Uhrzeit. Da kam man schnell in Verruf. Aber Mathilda Eschenbachwar eine Künstlerin, und die hatten bekanntermaßen lockere Sitten. Sie hatte sich ja sogar von ihrem Kollegen in aller Öffentlichkeit zum Abschied küssen lassen. Was, wenn ein Nachbar sie durch das Guckloch einer Wohnungstür gesehen hatte? Sören hatte auf der Straße nicht darauf geachtet, ob hinter einem der Fenster im Haus noch Licht gebrannt hatte. Allerdings konnte man davon ausgehen, dass jeder halbwegs gesittete Bewohner um diese Uhrzeit schlief. Sören musste über seine eigenen Gedanken schmunzeln. Bislang hätte er sich auch als gesittet bezeichnet.
    «Du brauchst nicht zu flüstern», meinte Mathilda, während sie ihre Jacke an einen schmiedeeisernen Garderobenhaken hängte. «Die Wohnung unter mir steht derzeit leer, und gegenüber wohnt eine alte Dame. Sie ist fast taub. Wahrscheinlich könnte ich hier oben sogar meine Partituren üben, aber das habe ich mich bislang noch nicht getraut. Also verlege ich das Üben immer auf die Räume des Conservatoriums, wo ich auch unterrichte.»
    «Ich wäre niemals darauf gekommen, dass   … dass du   …» Sören tat sich immer noch schwer damit, sie zu duzen. Alles war so schnell gegangen, so plötzlich.
    «Dass ich was?», entgegnete Mathilda. «Eine Sozialdemokratin bin?»
    Sören nickte verlegen.
    Mathilda lächelte ihn an. «Ich höre es nicht zum ersten Mal, dass man mir so etwas nicht zugetraut hätte. Viele waren wie vor den Kopf gestoßen, und manche distanzierten sich dann sehr schnell von mir. Vielleicht hatte ich wegen dieser Erfahrungen auch Angst, mit dir darüber zu sprechen. Angst, dass du kein Verständnis dafür haben könntest, wenn sich eine Frau politisch engagiert– und dann noch für die Sozialisten. Wie dumm von mir.»
    «Wie bist du dazu gekommen?», fragte Sören interessiert.
    «Dazu kommt man nicht», erklärte sie. «Ich glaube, man trägt es in sich. Es ist nur eine Frage, ob man es wagt, zu seinem Gefühl zu stehen. Es gibt so viele Ungerechtigkeiten, so viele Missstände, die es zu ändern gilt. Und die Rolle der Frau in der Gesellschaft betrifft das ganz besonders.» Sie deutete auf ein schmales Sofa in der Ecke des Zimmers, entzündete die Gaslampe an der Decke und zog die Vorhänge zu. «Setz dich doch. Ich mache uns schnell einen Kaffee.»
    Während

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