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Der blaue Tod

Der blaue Tod

Titel: Der blaue Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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wusste Sören, auch ohne auf den Kalender zu blicken. Erst morgen Vormittag war er mit Senator Hachmann verabredet. Sein Entschluss stand nach wie vor fest. Er suchte nach dem Schlüssel, den Altena Weissgerber ihm gegeben hatte. Es war an der Zeit, die Wohnung von diesem Marten Steen einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Vielleicht ergab sich dort irgendein Hinweis auf dessen Aufenthaltsort.
     
    Sören fuhr über die Ringstraße auf den Holstenwall, ließ Botanischen Garten und Gerichtsgebäude rechter Hand liegen und steuerte auf das Millerntor zu. Nachdem er in die Reeperbahn eingeschert war, musste er das Tempo auf Schrittgeschwindigkeit drosseln, so dicht war hier der Verkehr. Am Spielbudenplatz, dessen Gestalt seit einigen Jahren einer permanenten Baustelle glich, ohne dass sich, von den Namen der unterschiedlichen Localitäten einmal abgesehen, wirklich irgendetwas zu verändern schien, hielt Sören kurz und kaufte sich an einem der offenen Verkaufsstände ein Rundstück warm. Dann lenkte er den Wagen hinter der Polizeiwache in die Davidstraße und bog nach wenigen Metern in die Erichstraße ein.
    Steens Wohnung lag in der oberen Etage einer alten Budenreihe, die wohl weit vor der Jahrhundertmitte erbaut worden war. Zumindest machte sie einen ziemlich baufälligen Eindruck. Das Dach war an mehreren Stellen geflickt, und der Putz war fast vollständig abgefallen. Zwischen vielen Backsteinen hatte sich bereitsder Mörtel aus den Fugen gelöst, sodass sich mehrere große Risse quer durch die Hauswand gebildet hatten. Der wild wuchernde Wein, dessen Ranken bis zum Giebel emporgekrochen waren, verlieh dem alten Bau ein morbides und gleichzeitig malerisches Gepräge. Sören fühlte sich an die alten Buden auf dem Kehrwieder erinnert, zwischen denen sie als Kinder herumgetobt und Fangen gespielt hatten. Jeder Schlupfwinkel war ihnen bekannt gewesen, jede lose Zaunlatte, durch die man auf die geheimen Pfade in die verwilderten Gärten gelangte.
    Auch hier gab es idyllische Gärten und einen breiten Vorplatz, auf dem eine ganze Horde Gören spielte. Zwei Jungens waren dabei, einen Kreusel durch den Sand zu peitschen, eine andere Gruppe spielte Abo-Bibo mit Abbacken, wie Sören an den auf die Hauswand geschriebenen Phantasienamen erkennen konnte. Die Regeln waren ihm noch gegenwärtig, und er musste schmunzeln, als ihm einfiel, dass Martin früher meistens als Erster ausgeschieden war, weil er nicht so schnell rennen konnte. Adi Woermann hatte immer angefangen zu heulen, wenn er abgebackt worden war. Nun war er einer der wichtigsten Reeder in der Stadt. Sie mussten ungefähr im gleichen Alter gewesen sein wie der schmächtige Junge, der sich gerade vor der Häuserwand zum Wurf bereitmachte.
    Mit aller Kraft schleuderte er den kleinen Ball gegen das Mal an der Wand und schrie einen der Namen, woraufhin alles auseinander rannte, bis auf den Angesprochenen natürlich, der den Ball, so schnell es möglich war, fangen musste. Hatte er ihn, durfte sich niemand mehr bewegen, und er hatte die Chance, den Nächststehenden abzubacken. Traf er, schied derjenige aus, und erbestimmte den nächsten Werfer mit einem Wurf gegen das Mal. Wer als Letzter übrig blieb, hatte gewonnen. Sören beobachtete die Kinder einige Augenblicke und versuchte, sich zu erinnern, welche Variante sie früher gespielt hatten. Wenn man den Ball beim Versuch des Abbackens gefangen hatte, durfte man nämlich irgendetwas bestimmen, aber wie genau der Spielverlauf dadurch geändert wurde, fiel ihm nicht mehr ein.
    Die in der oberen Etage der Bude gelegenen Wohnungen erreichte man über außen liegende hölzerne Treppen. Im Inneren reihten sich die Zimmer beidseitig an einem finsteren Flur. Sören zählte auf jeder Seite fünf Türen. In der Mitte des Flures gab es eine kleine Feuerstelle und einen ausgeriebenen alten Spülstein. Er brauchte nicht lange zu suchen. Steens Name stand mit Kreide an die Tür geschrieben. Er klopfte mehrmals an, aber wie erwartet rührte sich nichts. Vorsichtig steckte er den großen Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Die Zarge knarrte verräterisch.
    Nachdem Sören den Riegel vorgeschoben hatte, blickte er sich um. Die Wohnung bestand aus zwei schmalen Kammern. Eine Tür gab es nicht. In einer Wandnische zum Flur befand sich eine kleine Kochstelle mit einem eisernen Ofen, der schon seit einiger Zeit nicht mehr benutzt worden war, wie Sören an den Spinnweben vor der Feuerklappe erkennen konnte. Durch eine kleine

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