Der blaue Vogel kehrt zurück
überhaupt nichts daraus zu machen.
Ein Mann im Arztkittel nähert sich meinem Bett erst schleppend, dann zu schnell und schließlich in einem Tempo, das seiner Statur entspricht. Zum Glück hört dann auch das Flimmern auf und ich bemerke, dass seine freundliche Miene nicht bloß aufgesetzt ist. Er stellt sich vor. Seine große Hand passt genau in meine. »Jan Steenstra, Assistenzarzt. Und das ist Suze, aber die kennen Sie schon, nicht wahr?«
Ich lächele der Schwester zu, die schräg hinter ihm steht.
»Wie geht es Ihnen?«
»Gut.«
»Wissen Sie, welcher Tag heute ist?«
»Nein, tut mir leid.«
»Mittwoch, der 16. März. Wissen Sie, wo Sie sind?«
»Im Krankenhaus, aber ich kann Ihnen beim besten Willen nicht sagen, wie es heißt.«
»Sehr gut«, sagt Dr. Steenstra, »Sie liegen im VU Medisch Centrum. Wissen Sie, seit wann Sie hier sind?«
Plötzlich fällt mir ein, dass ich gestürzt bin. Ich greife mir an die Stirn und spüre ein Pflaster. Es ist an einer Straßenecke passiert, ich war fast da.
»Ich war fast da«, sage ich, »bei Lindas Hotel auf der Stadhouderskade.«
»Richtig. Sie sind Freitagabend im Krankenwagen hergebracht worden. Gut möglich, dass Sie sich nicht genau daran erinnern. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass Ihnen von Ihrem Aufenthalt in der Notaufnahme nicht allzu viel im Gedächtnis ist. Sie haben sich eine Kopfverletzung zugezogen. Die ist dort gut versorgt worden. Weil es Anzeichen von Dehydrierung gab, hat man Ihnen einen Tropf gelegt. Und gleich noch ein paar Röntgenaufnahmen gemacht, so sind Sie schließlich zu uns in die Neurologie gekommen. Ich möchte Ihnen gerne etwas über Ihren Zustand erzählen, in groben Zügen. Einverstanden?«
»Ja.«
»Sie sind hier im Überwachungszimmer. Das bedeutet, dass wir Sie gerne ein bisschen im Blick behalten möchten. Wegen eines Harnwegsinfekts haben Sie ziemlich hohes Fieber gehabt. Die Antibiotika schlagen anscheinend gut an, aber wir würden gern sehen, dass Ihre Temperatur noch etwas weiter sinkt.«
Der Assistenzarzt wirft einen Blick in seine Unterlagen und fragt: »Sie sind letzte Woche von Brasilien aus in die Niederlande geflogen, stimmt das?«
»Ja.«
»Das ist eine ziemlich weite Reise.«
So eine weite Reise, so lange unterwegs, um schließlich wieder beim Ausgangspunkt anzukommen. Ich kann mein ganzes Leben, alles, was ich mitgemacht habe, in dieser einen Bewegung festhalten: von hier nach da und wieder zurück.
»Menschen in Ihrem Alter kann eine solche Reise manchmal ein bisschen durcheinanderbringen. Das ist nichts Außergewöhnliches. Sie haben in kurzer Zeit allerlei neue Eindrücke gehabt – wie lange waren Sie nicht mehr in Holland?«
»Ich weiß nicht genau. An die siebzig Jahre.«
»Und was war der Zweck Ihrer Reise?«
Diese Frage kann ich nicht beantworten. Ich hatte angenommen, dass ich Catharina besuchen würde, und gesagt habe ich, dass ich zur Beerdigung meines Cousins Seno wollte, aber vielleicht bin ich in Wirklichkeit zum Sterben hergekommen. Es mag ein bisschen kindisch sein, doch ich spüre, wie mir Tränen in die Augen steigen, die ich nicht mehr zurückhalten kann.
Dr. Steenstra nimmt meine Hand. »Wir haben Ihnen eine Tablette gegeben, damit Sie ein bisschen ruhiger werden. Und gestern Abend haben wir Ihnen einen Katheter gelegt, weil Sie Ihre Blase nicht mehr unter Kontrolle hatten. Es kann sein, dass der Harndrang noch eine Weile anhält, doch ich vermute, das wird sich im Laufe des Tages geben. In Ordnung?«
»Ja. Danke, Doktor …« Ich möchte ihn beim Namen nennen, doch ich muss an Augusto denken, der denselben Haarschnitt hat wie er, und ich stelle mir vor, wie mein brasilianischer Freund mich an einem Seil wieder zurück nach Hause zieht. DieVorstellung, dass ich mich immer noch mit ihm, mit seinem Andenken verbunden fühle, ist beruhigend.
»Als Sie hierher verlegt wurden, haben wir ein CT von Ihrem Kopf gemacht.«
Er sieht mich fragend an. Mir wird klar, dass er mir etwas Wichtiges mitzuteilen hat und wissen möchte, ob ich im Stande bin, es zu hören. Ich nicke.
»Ehrlich gesagt, Meneer Jacobson, bin ich nicht so glücklich über das, was ich da gesehen habe.«
»Was haben Sie denn gesehen?«
»Einen pathologischen Befund. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, doch es besteht die Möglichkeit, dass es sich um Metastasen eines Tumors handelt.«
Hast du das gehört, Augusto? Haben sie mich am Ende doch am Wickel!
»Ich will heute mit ein paar Kollegen die Ergebnisse der
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