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Der blaue Vogel kehrt zurück

Der blaue Vogel kehrt zurück

Titel: Der blaue Vogel kehrt zurück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arjan Visser
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kleinsten Hüpfer bahnten sich Schmerzen einen Weg von der Taille bis zum Nacken. Trotzdem war ich froh, dass ich nach all den Jahren noch wusste, wie man sich im Ring zu bewegen hatte.
    Vielleicht hatte ich ja angenommen, dass ich es mit einem bisschen Training noch zu was bringen könnte. Dass ich einfach nur ein wenig außer Form war, weiter nichts.
    Erst jetzt, da meine Hand wie ein lebloser Gegenstand neben mir liegt, geht mir auf, dass es endgültig vorbei ist. Ich versuche, die Arm- und Beinmuskeln anzuspannen, atme so tief ein, wie ich kann, doch mein Brustkorb hebt sich kaum.
    Zwischen meinen Beinen liegt faul und weich Nanas Tier. Auch das war das letzte Mal, an jenem Abend bei ihr im Bett, vor unendlich langer Zeit.
    »Na, dann will ich ihn mal zähmen«, sagte sie. Sie packte ihrTier beim sich aufbäumenden Hals, schloss die Lippen um seinen Kopf und kitzelte den Spalt mit der Zunge.
    Sie summte das Lied vom azulão , dem schönen blauen Vogel.
    »Meneer Jacobson? Meneer Jacobson?«
    »Wer sind Sie?«
    »Ich bin Suze. Es wäre besser, wenn Sie eine Weile wach bleiben würden. Was meinen Sie, kriegen Sie das hin?«
    Ich hebe den Kopf ein bisschen an und lasse ihn wieder sinken. Meine Augen bleiben an dem Infusionsschlauch an meiner Hand hängen. Die Haut ist in einem unregelmäßigen Muster von Altersflecken bedeckt. Jetzt fällt mir mein zerfurchtes Gesicht ein, die kahle Stelle am Hinterkopf. Ich kann mich noch ans Älterwerden erinnern, nicht mehr ans Ältersein.
    Der Mensch ist ein Seelchen, belastet von einem Leichnam. Wer hatte das noch gesagt?
    Ich gähne.
    Wie lange muss ich noch wach bleiben?

28
    »Pass gut auf, Jonah, gleich bist du an der Reihe.« Landau war nervöser als ich.
    Um meiner Mutter einen Gefallen zu tun, hatte ich mich mit allen Formalitäten meiner Bar-Mizwa-Feier einverstanden erklärt. Beim Rabbi hatte ich einen hebräischen Text auswendig gelernt. Ich wusste jetzt sogar, wie man einen Teil aus der Parascha singt. Weil ich erst so spät angefangen hatte zu lernen – aber auch, weil Landau nicht mein richtiger Vater war –, genügten ein paar Zeilen aus dem Levitikus. Die Propheten durfte ich auslassen.
    Es machte mir nichts aus, auf der Bima zu stehen und aus der Thora vorzulesen. An diesem Montagmorgen hörten mir ohnehin nur wenige zu, und soviel ich wusste, waren keine Jungs aus dem Olympia in der Synagoge.
    Ganz egal, was Landau in Angriff nahm, es war alles nur bescheiden. Er schenkte mir einen schlichten Gebetsmantel, und die Tefillin, die er mir gab, waren bereits so abgenutzt, dass sie beim Anlegen zu zerreißen drohten.
    Er hatte es mir ein paar Mal gezeigt; es war schön zuzusehen, wie er die Lederriemen um den Kopf und den linken Arm – »Pass auf, Jonah, sieben Mal« – exakt so band, dass die schwarzen Kapseln schließlich mitten auf der Stirn und dem Oberarm lagen, »so nah wie möglich beim Herzen«. In diesen kleinenWürfeln, erklärte Landau, befanden sich Texte aus dem Exodus und dem Deuteronomium über die Einheit Gottes, die Allmacht Gottes, den Auszug aus Ägypten.
    »So sind wir mit Geist, Herz und Hand an Gott gebunden.«
    Ich gönnte meiner Mutter diesen Mann. Ich gönnte ihr seine Ruhe, sein Vertrauen in Gott und die Menschen. Ihr zuliebe führte ich dieses Theaterstück auf.
    »Jonah!« Ich bekam einen Schubs. »Geh schon!«
    Ich ging zum Podest in der Mitte der Synagoge. Die Thora lag wie ein Stück Tapete auf dem Tisch ausgerollt. Der Vorsänger reichte mir einen Zeigestab mit einer kleinen silbernen Hand samt ausgestrecktem Zeigefinger an der Spitze, und in dem Singsang, der mir beigebracht worden war, trug ich die ersten Verse aus dem Levitikus vor. Es war ein Text über Gebote, viel mehr als die zehn, die ich in der Schule gelernt hatte.
    »Bar-Mizwa«, sagte Landau, »bedeutet ›Sohn des Gebots‹. Du musst jetzt versuchen, dich an die sechshundertdreizehn Gebote der Thora zu halten.« An diesem Montagmorgen würde ich mich von meinen Eltern lösen – vor allem von ihm, meinem Stiefvater – und meine eigenen Entscheidungen treffen, selbst Verantwortung übernehmen.
    »Denn ich«, sang ich zum Schluss, »der Herr, Euer Gott, bin heilig.«
    Dann erhielt Landau das Wort. »Gelobt seist du, der du mich von der Verantwortung für ihn befreit hast.«
    Ich kannte die Rituale, ich wusste, dass dieser Satz kommen würde, und trotzdem schämte ich mich für meinen Verrat. Landau war nicht mein Vater. Ich bin der Sohn meines Vaters, der Sohn von

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