Der blaue Vogel kehrt zurück
Meijer Jacobson.
Bei der anschließenden Feier, zu der höchstens fünfzehn Personen kamen, überreichte mir meine Mutter das zweibändigeWerk ›Jüdische Riten und Symbole‹ von Rabbi de Vries. Ich dankte ihr für die Bücher – und im Stillen für ihren kleinen Protest gegen Landau, weil sie mir nicht, wie er gehofft hatte, eine selbst bestickte Tasche für den Gebetsmantel geschenkt hatte.
Ich dankte meinem Stiefvater für seine Geduld und seine weisen Worte.
Dem Rabbi dafür, dass er mir die Schriften von Levitikus erklärt hatte.
Dem Chasan für die Gesangsstunden.
Es war eine Derascha, wie sie im Buche steht – eine Rede, bei der ich großmütig gewesen war und niemanden übergangen oder benachteiligt hatte.
Abends räumte ich die Bücher von De Vries in eine Kiste und schob sie unters Bett. Ich konnte sie mir nicht ansehen, ohne daran zu denken, dass mein Vater mir ein Paar Boxhandschuhe geschenkt hätte.
29
»Will Meneer was essen? Die Schwester sagt, ’nen Joghurt dürfen Sie ham.«
Ich wundere mich nicht mehr darüber, dass wieder einmal jemand Unbekanntes bei mir ist und ich immer noch in diesem fremden Bett liege, aber ich verstehe nicht, wo sie alle abgeblieben sind und wie ich so schnell von einem Ort zum anderen gelangen konnte.
»Sie ham den ganzen Tag noch kein’ Besuch gehabt. Schon gemein, so ’n alter Knochen wie Sie, und immer so allein.«
»Ich war in der Synagoge.«
»Aber nicht doch, mein kleines Rabbinerchen! Wie woll’n Se denn da hingekommen sein, etwa im Krankenwagen?«
Ich war wirklich da, jetzt weiß ich es wieder. Vielleicht ist es doch länger her als nur ein paar Stunden. »War das gestern?«
»Sie sind schon fast ’ne Woche hier.«
»Dann eben noch eher. Ich war so lange nicht mehr da, wissen Sie. Früher bin ich immer mit meinem Vater hingegangen. Kennen Sie meinen Vater?«
»Nee, den kenn’ ich nich. Und Ihr’n Opa schon gleich gar nich.«
»Später bin ich mit Landau hin. Als Landau weg war, bin ich nicht mehr gegangen. Ich musste einfach hingehen. Es war ganz in der Nähe von Lindas Hotel, in der Gerard Doustraat. Ich dachte: Das schaffe ich schon.«
»Beim Albert-Cuyp-Markt?«
»Ja …«
»Da ham Se sicher ’nen schönen Einkaufsbummel gemacht?«
»Nein, nein.«
»Ich will Sie doch bloß foppen, Meneer Jacobson. Der Markt is eh nich mehr, was er mal war. Nur noch Jacken und Hosen. Billige Plunder aus dem Ausland. Und ’ne Statue von André Hazes, unserm Schlagersänger, aber die is auch made in Taiwan. Da sieht man’s mal wieder! Und die feinen Pinkel in Den Haag finden das alles gut, nich? Na ja, mir kann’s ja wurscht sein. Solange ich nich selber mit ’nem Geschirrtuch auf ’m Kopp rumrennen muss, oder? So, dann will ich mal weitergeh’n, hier gibt’s noch mehr hungrige Mäuler.«
»Vielen herzlichen Dank.«
»Gern geschehen, Meneer Jacobson. Ach, sieh an, Sie kriegen ja doch noch Besuch. Je später der Abend, desto schöner die Gäste, woll’n wir mal sagen.«
Ich habe keine Lust auf Krankenbesuch. Erst recht nicht von Menschen, die ich noch nie gesehen habe. Der stämmige junge Mann, der da so resolut angestiefelt kommt, kennt mich anscheinend. Ohne die Frau mit dem Essenswagen zu begrüßen, nimmt er sich einen Stuhl aus dem Schrank neben meinem Bett, klappt ihn auf und knallt ihn wie einen Liegestuhl auf den Boden. Er macht sich nicht mal die Mühe, sich vorzustellen. Sein Interesse an meinem Zustand ist vorgetäuscht. Ich weiß, worauf er aus ist, solche Typen kenne ich. Es dauert nicht lange, bis er darauf zu sprechen kommt.
»Sonja hat erzählt, dass Sie in Brasilien Diamanten gefunden haben.«
Sonja! Das Mädchen, das mich vor Kurzem besucht hat. Plötzlich fällt mir ein, wer sie ist, ohne dass ich sie kenne. DieserMann gehört also zu ihr. Das ist mir ein Rätsel. Er ist ungeduldig, hört nicht zu, und seine Augen stehen zu eng beieinander. Wenn das hier ein Kampf wäre, würde ich ihn so lange wie möglich auf Abstand halten.
»Stimmt das, die Geschichte mit den Diamanten?«
»Es stimmt.«
»Dann sind Sie also damit reich geworden?«
»Aber sicher.«
Ich drehe mich auf die Seite, der junge Mann rückt den Stuhl näher heran. Er ist nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt, und ich kann ihn trotzdem nicht riechen. Seine Geruchlosigkeit verunsichert mich. Stinker sind mir lieber, da weiß ich wenigstens, woran ich bin. »Erzählen Sie mal.«
Zögernd fange ich an, von unserem Grundstück in Milho Verde zu
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