Der blaue Vogel kehrt zurück
ich mich Ihnen so aufdränge, aber …«
»Nein, nein, das tust du doch gar nicht. Ich freue mich, dass du da bist.«
»Sie liegen hier schön«, sagt sie. »Und es sieht so aus, als würde es Ihnen auch wieder ein bisschen besser gehen.«
»Manchmal sind Menschen da.«
»Menschen?«
»Tote Menschen, meine ich.«
»Keine Sorge, das träumen Sie bloß. Die Krankenschwester hat mir davon erzählt, sie sagte, Sie wären vor allem nachts unruhig. Deshalb bekommen Sie Beruhigungsmittel.«
Sie sieht mich voll Mitgefühl an. Trotz meiner Verwirrung versuche ich, mich zusammenzureißen. In einem Ton, der ihr zu verstehen geben soll, dass alles bestens ist und ich bei klarem Verstand bin, frage ich sie, ob Catharina noch lebt.
»Oma Kat? Ja, sicher. Sie wohnt in einem Pflegeheim. Im Sint Jacob auf der Plantage Middenlaan. Aber sie ist … na ja, alt natürlich.«
Mit dieser jugendlichen Version von ihr an meinem Bett ist es mir vollkommen unmöglich, mir vorzustellen, wie Catharina in hohem Alter aussehen könnte.
»Kleine Kattie«, sage ich, »um kein Haar verändert.«
»Ich bin Sonja.«
»Ja …«
»Ich sag’s nicht gern, aber im Lauf des letzten Jahres hat meine Oma ziemlich abgebaut. Sie ist aufbrausend geworden, will nur noch in ihrem Rollstuhl vom Bett zum Fernseher gefahren werden und bleibt sogar davor sitzen, wenn er aus ist. Außerdem beklagt sie sich neuerdings über alles Mögliche, was sie früher gar nicht gestört hat. Wissen Sie über ihre Prothese Bescheid? Die hat sie schon seit dem Krieg, also …«
»Ich wusste, dass sie einen …« Wie soll ich es nennen? Dass ihr ein schlimmer Unfall zugestoßen ist? Dass sie einen Anschlag überlebt hat?
»… sie tut gerade so, als würde sie ihren Unterschenkel seit ewigen Zeiten vermissen. Früher hat sie Witze darüber gemacht. Dann hat sie die Prothese mitten im Gespräch abgeschraubt und auf den Tisch gestellt, einfach so. Und sie konnte wunderbar kochen, gibt sich aber jetzt mit wässriger Suppe und Plastikkäse zufrieden. Das ist übrigens das Einzige, womit man sie noch aus der Reserve locken kann: Essen. Oma Kat schleppt sich von einer Mahlzeit zur nächsten.«
»Ist sie denn noch klar im Kopf?«
»Ich weiß nicht genau. Eigentlich wirkt sie ganz verständig. Nur schade, dass sie sich über alles ärgert … Ich kann das ja verstehen. Ich finde es auch keine schöne Vorstellung, ins Altersheim zu müssen. Da gibt es eine ganze Menge Verrückte. Manche reden überhaupt nicht, andere murmeln nur so ein bisschen vor sich hin. Ziemlich unheimlich finde ich das. Und wenn man dann bedenkt, wo sie herkommt … Vor wenigen Jahren noch wohnte meine Oma in einem wunderschönen Haus in …«
Mit der Geschwindigkeit, in der Catharinas Enkelin durchdie Zeit rast, kann ich nicht mithalten. Ich verliere den Faden, höre sie zwar reden, verstehe aber immer weniger. Irgendwo in diesem Wirrwarr an Informationen verstecken sich Antworten auf meine Fragen. Manchmal kann ich einen Blick darauf erhaschen, doch je mehr ich mich anstrenge, ihr zu folgen, desto elender fühle ich mich. Allerdings könnte ich eine einfache Bitte formulieren, mich daran festhalten und sie ihr vorlegen, wenn sie einmal ihr Tempo drosselt oder vielleicht sogar einen Moment innehält.
Sie kramt in ihrer Tasche. Ein Handy, genau so ein Ding, mit dem ich Vicky manchmal habe telefonieren sehen. Sie redet weiter mit mir und drückt währenddessen auf ein paar Tasten. »Sehen Sie«, sagt sie, »das ist meine Oma.«
Sie hält mir den Apparat unter die Nase. Ich schiebe ihre Hand von mir weg, damit ich das Bild besser sehen kann. Da ist sie: Catharina Hovenier.
»Das Foto ist schon ein paar Jahre alt«, sagt Sonja, »so habe ich sie am liebsten.«
Eine alte Frau nippt an einem Glas. An ihrem Oberteil klemmt eine Ansteckblume.
»Es scheint fast so, als hätte sie seit meiner Hochzeit weniger Freude am Leben.« Sonja lacht. »Ich allerdings auch. Nie hätte ich … Na ja, sehen Sie mal.« Sie legt zwei Finger auf den kleinen Bildschirm, spreizt sie und zaubert so zu meiner großen Verblüffung eine Vergrößerung von Catharinas Foto zum Vorschein. »Hier ist sie so, wie ich sie immer gekannt habe: eine liebe, starke Frau.«
Das sehe ich auch so. Ich glaube sogar, dass ich nach ihr nie mehr jemanden kennengelernt habe, der diese beiden Eigenschaften so gut unter einen Hut brachte.
Ich würde sie so gern noch einmal berühren …
»Falls es mir je wieder besser gehen sollte, könnte ich ja
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