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Der blaue Vogel kehrt zurück

Der blaue Vogel kehrt zurück

Titel: Der blaue Vogel kehrt zurück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arjan Visser
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vielleicht mit dem Taxi zum Pflegeheim fahren und sie dort besuchen? Was meinst du?«
    Sonja sieht mich ernst an. Ich weiß nicht, ob sie an den Zustand ihrer Großmutter denkt oder an meinen.
    »Ich erzähle ihr, dass Sie da sind«, sagt sie schließlich.
    »Das wäre sehr nett von dir.«
    Ich verstehe es ja, dass diese kurze Entfernung schwer zu überbrücken ist, aber ich würde so gerne ein paar Dinge zurechtrücken, ein paar Probleme lösen, das vielköpfige Monster der Fantasie erlegen.
    »Du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich in den letzten Tagen alles erlebt habe«, sage ich leise.
    Sonja steckt das Telefon wieder ein und holt mein Adressbuch heraus.
    »Ich war gestern im Hotel, um Ihre Sachen zu holen. Entschuldigen Sie meine Neugier, aber ich habe dieses Büchlein gesehen und mich gefragt, ob nicht vielleicht Menschen in Brasilien erfahren sollten, was Ihnen zugestoßen ist.«
    Mir fällt nur ein Name ein. »Nana.«
    »Ihre Frau?«
    »Eine schöne Frau. Das hört sie viel zu gerne. Ich frage sie immer: Warum soll ich es dir denn immer wieder sagen? Dass du eine Schönheit bist, steht unumstößlich fest. Werden Diamanten weniger schön, nur weil man sie nicht bewundert? Oder hässlicher, wenn man etwas an ihnen beanstandet? Und dann sagt sie: ›Aber ich habe hier so einen Fleck‹, und zeigt dabei auf eine kaum sichtbare Sommersprosse am Hals oder weiter unten, je nachdem. Gut, sage ich dann, um ihr einen Gefallen zu tun, dann bist du eben ein VVS … Weißt du, was das ist? Ein Diamant, der nicht ganz lupenrein ist, ein Stein mit einem winzigenFehler. Very Very Small, heißt das. Ich war Diamantarbeiter. Hatte ich das schon erzählt?«
    »Nein, das wusste ich nicht.«
    »Und Boxer.«
    »Das sieht man.«
    »Ach nein … Mein Brustkorb ist ganz eingefallen. Ich habe zu viel Haut, als wäre ich von innen ausgeraubt worden. Und mein Haar ist dünn und grau.«
    »Soll ich Ihre Frau anrufen?«
    »Ja, gern. Sie macht sich bestimmt Sorgen.«
    »Und welche ist Ihre Nummer? Ich sehe hier nur jemand namens Vicky stehen.«
    »Ja, Vicky soll auch wissen, dass ich hier bin.«
    »Ist das Ihre Tochter?«
    »Meine Tochter?«
    Mir fallen die Augen zu. Als würde sich jemand mit seinem ganzen Gewicht an meine Lider hängen. Wieso bin ich bloß so müde? Ein Schleifer, ein Boxer. Ich krieche auf Knien durch den Schlamm des Rio de São Francisco. Naki geht vor mir her. Einen einzigen Stein suche ich noch, hier irgendwo muss er sich vor mir verstecken.
    »Ich fange einfach mit Vicky an, dann sehe ich ja, wie weit ich komme.«
    Die Matratze gibt unter mir nach. Sie ist aufgestanden. Ich suche ihre Hand, ihren Arm, zur Not auch ihren Ärmel. Das Mädchen darf mir nicht entwischen.
    Bleib doch noch einen Augenblick hier. So spät ist es gar nicht. Bleib bei mir. Das würde ich gerne sagen.

37
    Wir fuhren auf der Indian durch das Landesinnere Brasiliens, um eine Bleibe für uns zu suchen. Meinen Krempel hatten wir solange bei Nanas Eltern untergestellt. Im Lauf der Monate hatten sich meine Kenntnisse von Nanas Sprache zwar gebessert, doch wir kamen mittlerweile auch ohne Worte gut zurecht.
    Nana hatte ein Seidentuch um den Kopf geschlungen. Eine Sonnenbrille sollte ihre Augen vor Staub schützen. Ihre nach oben gebogenen Mundwinkel verrieten mir, wie zufrieden sie mit ihrem Platz im Beiwagen war. Während ich bloß hoffte, Erfolg zu haben, war sie offenbar überzeugt davon, dass wir direkt darauf zusteuerten.
    Ihr Vater hatte sich über alles Mögliche gewundert – ich war der erste Europäer, den er sah, und er behielt mich die ganze Zeit im Blick, als könnte ich mich plötzlich verwandeln –, bloß nicht über mein Vorhaben, Diamanten zu suchen. Als Lastwagenfahrer kannte Carlos da Silva nicht nur Tausende Quadratkilometer Land, sondern genauso viele Geschichten von Kopfgeldjägern, Goldgräbern und Diamantensuchern. Er hatte gelernt, seine Ziele immer auf dem kürzesten Weg anzusteuern; Umwege lehnte er genauso ab wie Unsinn. Carlos konnte Wahrheit und Lüge so gut unterscheiden, dass die Menschen in seiner Umgebung ihm lieber zuhörten, als selbst Geschichten zu erzählen, da er ohnehin immer alles besser wusste.
    Anfangs hielt er mich auf Abstand. Mir war klar, dass die Unterstützung, die er mir anbot, eigentlich seiner Tochter galt. Nachdem Nana ihrem Vater meine Pläne erläutert hatte, erklärte er ihr mit Hilfe einer eigenhändig skizzierten Karte des Bundesstaats Minas Gerais, wo dieser Gringo – eine

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