Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Blaumilchkanal

Titel: Der Blaumilchkanal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ephraim Kishon
Vom Netzwerk:
packen.«
    Dulnikker warf einen Blick in die Schusterwerkstatt, und als er sah, daß der Gehilfe allein war, betrat er die dunkle Kammer. Der Staatsmann studierte aufmerksam das verwitterte Gesicht des bleichen alten Mannes, der, den zahnlosen Mund voller Nägel, an seiner Werkbank arbeitete. >Er ist alt genug, um der Vater des Schusters zu sein<, überlegte Dulnikker. >Aber statt so geehrt zu werden, wie es ihm gebührt, muß er sich von früh bis spät ausbeuten lassen.<
    »Guten Morgen, Genossen«, begrüßte der Staatsmann den Arbeiter und fügte mit wohlüberlegter Diplomatie hinzu: »Ist mein Schuh schon fertig?«
    »Nein«, erwiderte der Alte schrill mit seinem unverkennbaren rosineskanischen Akzent. »Sie haben uns keine Reparatur gebracht, Herr Ingenieur.«
    »Natürlich nicht.« Dulnikker steuerte das Gespräch in die richtigen Bahnen: »Wie kann ich mir eure Preise leisten?«
    »Bitte richten Sie sich das mit Salman.«
    »Nein, Genossen. Dafür seid ihr zuständig!«
    »Warum?«
    Diese naive Frage entfesselte einen Redeschwall Dulnikkers, der rapid auf den unglücklichen nichtorganisierten Arbeiter herunterprasselte.
    »Wieviel bekommen Sie für ein gewöhnliches Besohlen?«
    »Ungefähr dreißig Agoroth.«
    »Und wie viele Reparaturen machen Sie im Durchschnitt täglich?«
    »Vielleicht drei.« »Das kommt auf ungefähr ein Pfund pro Tag! Sie arbeiten fünfundzwanzig Tage im Monat. Nun, das kommt auf fünfundzwanzig Pfund im Monat. Stimmt’s?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Wie hoch ist Ihr Monatsgehalt?«
    »Weiß nicht.«
    »Bekommen Sie vierzig Pfund?«
    »Die bekomme ich.«
    »Aha!« brüllte Dulnikker. »Und wer steckt den Unterschied ein, ha?«
    »Weiß nicht.«
    »Das ist es ja gerade, Genossen! Ihr habt überhaupt kein Klassenbewußtsein. Und dann wacht ihr eines schönen Tages auf und entdeckt, daß die Jahre an euch vorbeigegangen sind, daß selbst eure wenigen übriggebliebenen Zähne wie Herbstblätter verweht sind. Und dann werdet ihr alle kommen und >Dulnikker, Dulnikker, Dulnikker< schreien. Aber dann wird es zu spät sein!«
    »Aber«, stammelte der Alte verzweifelt und rückte von seinem Besucher ab, »aber Sie haben uns wirklich keinen Schuh zur Reparatur gegeben, Herr Ingenieur.«
    Dulnikker ging auf den Arbeiter zu und stand wie ein dräuender Schicksalsbote vor ihm. »Ihr müßt für euch denselben Lebensstandard verlangen, den Zemach Gurewitsch aufrechterhält!«
    »Nein! Nein!« rief der erschrockene Alte flehend. »Bitte, Herr Ingenieur, bitte, verlangen Sie das nicht von mir! Ich kann nicht so schwer arbeiten wie Zemach. Er ist noch jung und kann auf das Feld gehen, aber ich komme gerade nur mit meiner Arbeit in der Werkstatt zurecht.«
    Der Staatsmann wischte sich den Schweiß von der Stirn. In dem engen Raum war es ausgesprochen heiß.
    »Ihr seid schwach, Genossen!« rief er. »Deshalb verdient ihr einen kürzeren Arbeitstag! Wie viele Stunden am Tag arbeitet ihr jetzt?«
    »Soviel ich mag.«
    »Das ist zuviel! Der Schuster beutet euer Pflichtgefühl als Arbeiter aus! Er weiß sehr gut, daß euer Gewissen euch zwingen wird, so lange zu arbeiten, solange ihr noch einen Finger rühren könnt. Und was ist das Resultat? Ihr beginnt zu husten, und ihr ertrinkt im Abgrund von Armut und Hunger. Nein, Genossen! Ihr müßt Zemach Gurewitsch informieren, schwarz auf weiß, daß ihr unter keinen Umständen so viel arbeiten werdet, wie ihr mögt. Von nun an, Genossen, werdet ihr eine Stunde weniger arbeiten! Und wenn das der Schuster ablehnt, werdet ihr unverzüglich einen Streik ausrufen!«
    »Ja, unverzüglich ... einen Streik ... Herr Ingenieur.«
    Allmählich wurde Dulnikker böse, weil er im Unterbewußtsein witterte, daß der Arbeiter die Grundtatsachen des Problems noch immer nicht begriffen hatte.
    »Streiken bedeutet, mit der Arbeit aufhören«, erklärte er schreiend. »Und wollen Sie bitte diese Nägel aus dem Mund nehmen! Sie könnten sie ja schlucken!«
    »Nur wenn ich bei der Arbeit gestört werde, Herr Ingenieur.«
    »Keine Angst, Genossen! Wenn Gurewitsch vom Feld heimkehrt, steht ihr auf, mutig und gerade, und sagt ihm auf meine Verantwortung: >Zemach Gurewitsch, von nun an werde ich um eine Stunde weniger arbeiten!« Der Schuster wird das ablehnen, und ihr werdet ihn von einer Arbeitsniederlegung informieren.«
    »Oh, Gott!«
    »Keine Angst, Genossen! Zemach Gurewitsch braucht euch, Zemach Gurewitsch wird euch nie mit leeren Händen wegschicken! Er wird euch eine halbe Stunde

Weitere Kostenlose Bücher