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Der Blaumilchkanal

Der Blaumilchkanal

Titel: Der Blaumilchkanal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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mit deutlichen Gesten, sollte er nur eine Kleinigkeit wegschnipseln, hier eine noch kleinere und hier überhaupt nichts. Dabei sprach ich so langsam, wie jemand, der nicht russisch kann, russisch spricht.
    Der Immigrant hörte mir aufmerksam zu, denn er kam aus Polen. Durch diesen geographischen Irrtum verwandelte er mich in einen stoppelhaarigen Matrosen, verpaßte mir eine völlig überflüssige Shampoo-Massage und leerte eine halbe Flasche Kölnischwasser über mich. Von einem Normalfriseur hätte ich mir so etwas nie gefallen lassen. Aber Taddeusz, wie gesagt, war erst seit einer Woche im Lande und hätte jede Kritik zu Recht als Fremdenfeindlichkeit empfunden.
    *
    Die dritte Runde, wieder einige Wochen später, begann vielversprechend. Als ich den Salon betrat, war der Neueinwanderer damit beschäftigt, die Barthaare eines anonymen Gnom zu stutzen, während Grienspan, der verläßliche Glatzkopf, arbeitslos danebenstand. Kaum hatte ich mich hingesetzt, als Grienspan seinen weißen Kittel ablegte und »Schluß für heute« sagte. Er wurde, wie ich im Spiegel sah, durch einen mir bisher unbekannten Dritten ersetzt, einen jungen Orientalen, der auf den Namen Schabbataj hörte.
    »Was darf s sein?« fragte er in gutturalem Hebräisch. »Einen Haarschnitt, der Herr?«
    Ich war ratlos. Eigentlich hätte ich gerne den Einwanderer Taddeusz geholt, andererseits hätte das wie ein Vorurteil gegen unsere orientalischen Landsleute unseres Landes wirken können, und nichts wollte ich weniger. Grienspan hatte sich in die Lektüre der Abendzeitung vertieft. Ich mußte selber handeln. »Ich trage mein Haar eher lang«, informierte ich Schabbataj.
    »In Ordnung, Boß, ich verstehe, Ihr Wunsch ist mir Befehl«, sprudelte Schabbataj, und sein Redefluß versiegte während der ganzen Zeit nicht. Aber als ich alles über seinen Lebenslauf und über die wichtigsten Phasen der Geschichte Marokkos wußte, hatte er mehr Haare auf meinem Kopf gelassen als irgendeiner seiner Vorgänger in den letzten Jahren. Es war, alles in allem, eine angenehme Überraschung.
    Anfang April kam ich wieder und erkannte sofort die Gefährlichkeit der Situation. Grienspan war intensiv mit der Lockenpracht eines jungen Avantgardisten beschäftigt, und ebenso intensiv warteten Taddeusz und Schabbataj auf ein neues Opfer. Tatsächlich deuteten sie beide gleichzeitig auf ihre leeren Sessel und ließen im Duett ihr »Bitte sehr« hören.
    Es war der gordische Knoten meines Lebens, Vom humanistischen Standpunkt aus gab es überhaupt keine Lösung. Für wen immer ich mich entschied, dem andern bliebe nichts als der Selbstmord.
    Einer von beiden mußte es schließlich sein.
    Es wurde Schabbataj.
    Kaum saß ich in seinem Sessel, als ich meine Wahl auch schon bereute. Taddeusz krümmte sich wie unter elektrischem Schock, obwohl er vermutlich gar nicht wußte, was das war. Mit kleinen tapsenden Schritten zog er sich in den Hintergrund zurück, von wo leises Schluchzen zu hören war. Ich tat, als hörte ich nichts. Aber vor meinen geschlossenen Augen sah ich die Heimkehr des Taddeusz, und es umringten ihn seine Kinder und fragten:
    »Papo, dlazsego placzesz?«
    Und Taddeusz antwortete ihnen:
    »Er hat den andern gewählt. . .«
    Im übrigen litt offenbar auch Schabbataj unter meiner herzlosen Entscheidung. Er schnitt mein Haar, wie Taddeusz es geschnitten hätte, stoppelkurz.
    Ich wollte meinen Fehler möglichst bald wieder gutmachen. Möglichst bald war allerdings sehr lange, weil ich warten mußte, bis mein Haar nachgewachsen war, damit Taddeusz auch wirklich etwas davon hatte.
    *
    Endlich war es so weit. Mein Plan war perfekt. Ich ging so lange vor dem Salon auf und ab, bis ich sicher war, daß Taddeusz als einziger frei war. In diesem Augenblick stürzte ich hinein und direkt auf den Sessel des Einwanderers zu, aber ein bärtiger Gnom, den ich von außen unmöglich hatte sehen können, kam mir zuvor und schnappte mir den Polen weg.
    Schabbataj schärfte sein Rasiermesser an einem Lederriemen mit grausamer Langsamkeit und betrachtete mich dabei scharf. Taddeusz hingegen wich meinen Blicken aus, als fürchtete er eine neue Erniedrigung. Grienspan tat, als ginge ihn das alles nichts an.
    Also saß ich da, mit angehaltenem Atem und angespannten Nerven. Wer würde als erster fertig sein, Schabbataj oder Taddeusz? Sollte Schabbataj mich gewinnen, so wäre es das Ende meines polnischen Einwanderers, daran zweifelte ich nicht. Angeblich lebte im KatharinenKloster auf dem

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