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Der Blaumilchkanal

Der Blaumilchkanal

Titel: Der Blaumilchkanal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Arbeitskampf mit ständigen Streikdrohungen gekostet, ehe Ginzburg das Finanzministerium davon überzeugen konnte, daß das Gummiband in den Unterhosen der von ihm betreuten Arbeitnehmer mit der Zeit an Spannung verliere. In Katastrophenfällen, so schrieb er in zahllosen Eingaben, wäre es unbedingt notwendig, ein ausgedehntes Gummiband gegen ein neues auszutauschen. Daher sei es unerläßlich, den Arbeitern eine Gummiabnutzungssonderzulage zu gewähren.
    »Genossen«, schrie Ginzburg vorgestern bei der Urabstimmung des außerordentlichen Gewerkschaftstages, »kann man von uns verlangen, mit heruntergerutschten Unterhosen zu schuften?«
    Und nun stand ein echter Engel mit einem flammenden Schwert vor ihm:
    »Ginzburg«, sprach er mit sanfter Stimme, »du mußt dich zwischen der Gummizulage und der Existenz des Staates entscheiden.«
    »Nimm Platz«, antwortete Ginzburg, »warum stehst du, Genosse Engel?«
    »Bedenke doch, Ginzburg, der Teufelskreis aus Gehaltserhöhungen einerseits und steigenden Preisen andererseits droht den Staat in den Bankrott zu führen. Eine einzige weitere Gehaltserhöhung, und die galoppierende Inflation wird euch alle in den Abgrund stürzen.« »Wem sagst du das«, seufzte Ginzburg, »glaubst du, ich weiß das nicht?«
    Er knöpfte seine Hose auf, um dem Engel zu zeigen, wie schlaff das Gummiband um seine Hüften bereits geworden war.
    Der Engel sah verlegen weg:
    »Du mußt dich entscheiden, Ginzburg, entweder Staat oder Gummiband.«
    Der Betriebsratsvorsitzende wand sich hin und her:
    »Ich muß das Problem von einer höheren Perspektive aus betrachten. Weintraub hat für seine Leute eine Sau-erstoffgratinkation erkämpft.«
    Der glühend beneidete Rivale von Ginzburg, Weintraub, war nämlich Zentralbetriebsrat der Spitäler. Es war ihm seinerzeit gelungen, dem Finanzministerium eine Sonderentschädigung zu entreißen, nachdem er die Sauerstoffzufuhr für Asthmatiker in drei großen Krankenhäusern eingestellt hatte.
    »Ich frage dich, Ginzburg, was dir wichtiger ist«, der Engel reckte sich und hob sein flammendes Schwert, »die Gummibänder oder Israel?«
    Ginzburg versank in Nachdenklichkeit. »Mir ist beides wichtig«, faßte er zusammen. »Einerseits darf es in diesem Land keine rutschenden Unterhosen geben, andererseits gehen meine Forderungen nach gespanntem Gummi nicht über die Landesgrenzen hinaus. Für mich bildet die Problematik eine Einheit. Ich möchte sowohl den jüdischen Staat als auch die Gummisonderzulage.«
    »Und wenn es darum geht, zwischen beiden zu wählen?«
    »Hast du auch Weintraub gefragt, was er wählen würde?«
    Der Engel beugte sich über ihn:
    »Nur radikales Umdenken der öffentlich Bediensteten bezüglich Leistung und Ertrag kann das Land in dieser schweren Stunde retten. Wie wollt ihr dem Urteil der Geschichte standhalten, wie wollt ihr unsere gespannte Lage erleichtern, wenn ihr nicht bereit seid, hin und wieder ein Opfer zu bringen?«
    Die gespannte Lage zu erwähnen war ein Fehler, Ginzburg steckte sofort wieder seinen Finger unter das Gummiband.
    »Ich lasse mir von niemandem erzählen, was Aufopferung bedeutet«, protestierte er. »Ich habe an drei Kriegen teilgenommen, bin zweimal verwundet und einmal fast gefangen genommen worden. Wer mich kennt, weiß, daß ich bereit bin, für die Heimat mein Leben herzugeben.«
    »Und der Gummi?«
    »Das ist etwas ganz anderes.«
    Der Engel wurde sichtlich müde. Er steckte sein flammendes Schwert ein, setzte sich neben Ginzburg und begann auf einem Taschencomputer zu rechnen.
    »Hör zu, Ginzburg, deine verdammte Gummibandabnutzungsanlage betrag 0,21 Prozent des dreijährigen Kohlendioxidüberschusses, mit anderen Worten, netto fast nichts. Was willst du mit diesen wenigen Groschen tun?«
    »Ich werde mir eine Sonnenbrille kaufen.«
    »Was kostet die?«
    »72 Schekel.«
    »Ich frage dich, Ginzburg, bist du bereit, für ein Zehntel Sonnenbrille dein Land zu verkaufen?«
    »Weintraub hat eine neue italienische Sonnenbrille.«
    Der Engel begann schwer zu atmen.
    »Wenn du auf diese Zulage nicht verzichtest«, warnte er, »kann das ganze Land lahmgelegt werden. Die Wirtschaft wird zusammenbrechen, das Geld keinen Wert mehr haben. Was wirst du dann tun?«
    »Ich werde vermutlich zwei ältere Familienangehörige entlassen, Opa und noch jemanden.« Der Engel brach in Tränen aus:
    »Du willst also dein Heim, deine Familie, kurz alles, was du ein Leben lang aufgebaut hast, zerstören? Warum, Ginzburg,

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