Der Blaumilchkanal
sprichwörtlichen Geizes >verkürzte< er sein Studium um ein ganzes Jahr, nur um die Studiengebühren zu sparen.«
»Du sollst nicht falsch Zeugnis reden.« Keine Kunst, das Gebot zu umgehen. Von Pressefreiheit steht nämlich kein Wort in der Bibel. Und Moses wußte genau warum.
Die Stiefschwester des falschen Zeugnisses ist eine attraktive junge Dame und heißt Gerücht. Aber enge Freunde nennen sie vertraulich Tratsch.
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SCHWEIGEN IST SILBER, SPRECHEN IST GOLD
Als ich unlängst aus dem Haus ging, kam unser Wohnungsnachbar Felix Selig auf mich zu.
»Schon gehört?« fragte er lauernd. »Haben Sie es schon gehört?«
»Was?« fragte ich zurück. »Solange ich nicht weiß, was es ist, kann ich nicht feststellen, ob ich es schon gehört habe.«
Felix blieb stehen und sah sich nach allen Seiten um:
»Schwören Sie mir, daß Sie es nicht weitersagen.«
»Abgemacht. Also?«
Seine Stimme senkte sich zu kaum hörbarem Flüstern:
»Der Architekt um die Ecke, der mit dem Chevrolet, wissen Sie, mit wem er seine Freundin erwischt hat?«
»Nein. Mit wem?«
Felix schwieg. In seinen Gesichtszügen spiegelte sich der Kampf, der in ihm tobte.
»Ich habe Angst, es Ihnen zu sagen«, stieß er hervor,
»Warum denn?«
»Weil ich geschworen habe, ich würde es niemandem sagen, und jetzt stehe ich da und sage es Ihnen. Wenn sich das herumspricht, gehen dreieinhalb Familien zugrunde oder mindestens auseinander. Man kann ja heute niemandem mehr vertrauen.«
»Das stimmt«, bestätigte ich. »Und das ist sehr schlimm. Wir stehen vor einem schweren Problem, lieber Felix.«
Tatsächlich, der schönste Tratsch über »Sie-wissen-schon-welche« Scheidung, über »Sie-können-sich-denken« warum, über »Sie-werden-es-nicht-glauben« seit wann, all dies verliert jeden Sinn, wenn man nicht seinen Freunden, Verwandten, Bekannten und solchen, die es werden wollen, schnellstens davon erzählen kann. Zurückgehaltener Tratsch ist geradezu ein Gesundheitsrisiko, führt zu inneren Stauungen und im schlimmsten Fall sogar zu Platzangst. Dennoch verlangt ein Naturgesetz, daß der Tratschinhaber den Tratschabnehmer zu völligem Schweigen verpflichtet, bevor er zu tratschen beginnt. Ein läppischer Unsinn. Wozu tratscht man, wenn nicht zum Weitererzählen?
»Also geschworen haben Sie«, wandte ich mich an Felix. »Bei was haben Sie geschworen?« »Bei allem, was mir heilig ist.«
»Gut. Das ist nicht so schlimm.«
Erfahrungsgemäß soll man niemals auf die eigene Gesundheit noch die eines Familienmitgliedes schwören, es sei denn, man wünscht ihm den Tod, aber das ist nach dem Fünften Gebot nicht erlaubt. Empfehlenswert sind allgemein gehaltene Floskeln wie »Aber das versteht sich doch von selbst« oder »Nicht einmal meiner Frau« oder »Auf mich können Sie sich verlassen«. Ich selbst bringe gern einen kurzen, leicht gekränkten Hinweis auf meine oft bewährte Verschwiegenheit vor. Im äußersten Notfall setze ich das Leben meines Onkels Julius ein, er ruhe in Frieden.
»Nun?« sagte Felix Selig. »Schwören Sie?«
»Nein.«
Ich weiß nicht, was plötzlich in mich gefahren war. Ich hatte plötzlich keine Lust mehr, das Spiel mitzumachen.
»Wissen Sie, wer in die Affäre verwickelt ist?« lockte Felix Selig. »Der Chauffeur eines Ministers.«
»Bitte reden Sie nicht weiter.«
»Ein Schwuler.«
»Ich will nichts hören. Ich kenne mich, Felix. Ich bin nicht imstande, den Mund zu halten. Ich werde meiner Schwester und meinem Freund Jossele davon erzählen, wahrscheinlich auch dem alten Wertheimer. Und wenn ich zwei Gläschen Wodka getrunken habe, kann es passieren, daß ich bei einer Verkehrsampel wildfremde Fußgänger einweihe.«
Felix wand sich in Qualen:
»Dann nennen Sie wenigstens keine Namen.«
»Namen sind die Würze des Tratsches, Felix.«
»Aber der Gatte jener Dame, die in flagranti erwischt wurde, gehört zu Ihrem engsten Bekanntenkreis. Das muß Sie doch interessieren.«
»Wie Sie meinen. Reden Sie, wenn Sie unbedingt wollen. Ich habe mich auf nichts festgelegt, und Sie wissen es.«
»Versprechen Sie mir, eine Woche lang keinen Wodka zu trinken?«
»Ich verspreche Ihnen gar nichts.«
»Warum?« stöhnte Felix. »Warum tun Sie mir das an? Was veranlaßt Sie dazu?«
»Mein Ehrgefühl.«
Felix begann zu schluchzen. Ich klopfte ihm beruhigend auf die Schulter:
»Vielleicht wäre es am besten, wenn Sie die ganze Geschichte aufschreiben und in einem versiegelten Umschlag bei
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