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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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Ängsten zusammenhängen, dass man irgendwie um den eigenen Anteil an der Jagdbeute des Stamms gebracht wird oder es nicht rechtzeitig vor Einbruch der Nacht aus dem hohen Steppengras zurück schafft –, und obwohl das zwischen uns definitiv nie zur Sprache gekommen ist, nehme ich heute an, dass diese tief sitzende unwillkürliche Angst, eine im Leerlauf wartende U-Bahn zu verpassen, bei meinem Vater besonders schlimm war, der als ein Mann von äußerst organisierter Selbstdisziplin und präziser Zeitplanung immer und bei allem auf die Sekunde pünktlich war und der die archaische Angst, etwas knapp zu verpassen, besonders intensiv empfand – auch wenn er ansonsten ein Mann von enormer Contenance und Selbstbeherrschung war, der es sich unter normalen Umständen niemals erlaubt hätte, Menschen anzurempeln oder mit wehenden Mantelschößen über einen öffentlichen Bahnsteig zu laufen, den dunkelgrauen Hut auf dem Kopf mit einer Hand festhaltend und Schlüssel und Kleingeld in der Hosentasche vernehmlich klirrend, außer er hätte einen intensiven irrationalen Druck verspürt, die U-Bahn zu erreichen, dem man ja oft gerade bei den diszipliniertesten und organisiertesten Menschen voller Contenance begegnet, die, wie sich dann zeigt, unter dem intensivsten psychischen Druck ihrer Verdrängungen oder ihres Über-Ichs stehen und manchmal einfach auf nichtige Weise ausrasten und sich, wenn der Druck hoch genug ist, auf eine Weise aufführen, die erst mal null zu dem Bild passt, das man sich von ihnen gemacht hat. Seine Augen oder seinen Gesichtsausdruck konnte ich nicht sehen; ich war hinter ihm auf dem Bahnsteig, zum einen, weil er allgemein schneller ging als ich – als ich noch ein Kind war, hatte er mich immer als »Trödler« bezeichnet –, zum anderen aber auch, weil wir an jenem Tag mal wieder so einen kleinkarierten Psychozoff hatten, weil ich verschlafen und er aus seiner Sicht deswegen »Verspätung« hatte, weswegen seine raschen Schritte und die Eile im CTA-U -Bahnhof etwas ostentativ Ungeduldiges bekamen, auf das ich mit bewusster Nichtanhebung meines eigenen normalen Schritttempos und mangelnder Anpassung an seine Geschwindigkeit reagierte und immer so weit hinter ihm zurückblieb, dass es ihn zwar ärgerte, aber noch nicht dazu brachte, sich umzudrehen und mich zur Minna zu machen, und außerdem mit einer Art weggetretenem, teilnahmslosem Verhalten – tatsächlich ganz wie ein trödelndes Kind, auch wenn ich das damals nie im Leben zugegeben hätte. Mit anderen Worten, die Grundsituation war, dass er genervt und ich eingeschnappt war, aber das war uns beiden so wenig bewusst wie die Tatsache, dass wir gewohnheitsmäßig diesen kleinkarierten Psychozoff hatten – im Nachhinein habe ich den Eindruck, dass wir aus möglicherweise völlig unbewussten Ursachen ständig so miteinander umgingen. Das ist eine typische Dynamik zwischen Vätern und Söhnen. Sie könnte teilweise sogar unbewusst den trägen Schlendrian an meinen verschiedenen Unis motiviert haben, für deren Studiengebühren er allmorgendlich pünktlich aufstehen und zur Arbeit gehen musste. Natürlich machte ich mir das alles damals nicht bewusst, ganz zu schweigen davon, dass es zwischen uns offen angesprochen und diskutiert worden wäre. In gewisser Weise könnte man sagen, dass mein Vater starb, bevor wir begreifen konnten, wie tief wir in diesen kleinkarierten Konfliktritualen steckten oder wie sehr diese die Ehe meiner Eltern in Mitleidenschaft gezogen hatten, denn meine Mutter war oft in die Rolle der Schlichterin gedrängt worden, und wir alle agierten Rollenmuster aus, die wir uns nicht bewusst machten, wie Maschinen, die vorprogrammierte Bewegungsabläufe vollziehen.
    Ich erinnere mich, dass ich durch das Gewimmel auf dem Bahnsteig eilte und sah, wie er sich mit der Schulter zwischen zwei großen, trägen Latinas hindurchzwängte, die auf die offenen Bahntüren zuhielten und Einkaufstaschen mit Bindfadengriffen gepackt hielten, von denen mein Vater eine mit dem Bein touchierte, sodass sie leicht zu pendeln anfing. Ich weiß nicht, ob die Frauen zusammengehörten oder nur durch ihre Größe und den Druck der Umstehenden genötigt wurden, so nah nebeneinanderzugehen. Sie gehörten nicht zu den nach dem Unfall Vernommenen, also waren sie wohl schon in der Bahn, als er sich ereignete. Ich war da nur noch zwei oder drei Meter hinter ihm und versuchte offen, ihn einzuholen, denn vor uns stand im Leerlauf die Bahn Richtung Zentrum, und die

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