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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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oder wegen der Verletzung seines Arms – verabsäumt, sinnvolle Maßnahmen zur Befreiung des Arms einzuleiten, nur schwer zu widerlegen war. Die männlichen Passagiere, die augenscheinlich versucht hatten, die Türen von innen mit Gewalt aufzustemmen, verschwanden schließlich mit der weiterfahrenden Bahn die Gleise hinab und konnten nicht identifiziert werden, was teilweise aber auch darauf zurückzuführen war, dass die Verkehrs- und Polizeiermittlungsbehörden diese Identifikationsarbeit in der Folge nicht gerade energisch betrieben, womöglich, weil schon am Unfallort feststand, dass es sich um eine Zivil- und keine Strafsache handelte. Der erste Anwalt meiner Mutter schaltete Kontaktanzeigen in der Tribune und der Sun-Times, die diese zwei oder drei Fahrgäste aufforderten, sich zu melden und eidesstattliche Aussagen abzugeben, aus angeblichen Kosten- und Praktikabilitätsgründen fielen diese Anzeigen jedoch sehr klein aus, wurden in den Kleinanzeigenspalten hinten in den Zeitungen versteckt und erschienen, wie meine Mutter später geltend machte, auch nur unangemessen kurz und lapidar in einer Zeit, wo viele Bewohner von Chicago und Umgebung die Stadt ferienhalber verlassen hatten – und das wurde dann ein weiteres langwieriges und komplexes Element in der zweiten Phase des Gerichtsverfahrens.
    Am U-Bahnhof Washington Square wurde als offizieller »Unfallort« – der bei einem Todesfall juristisch als »der lokalisierbare Platz eines Vorfalls [definiert wird], bei dem Sachen oder Menschen zu Schaden kommen« – eine Stelle fünfundsechzig Meter hinter dem Ende des Bahnsteigs schon im Tunnel Richtung Süden aufgeführt, wo die CTA -Bahn eine Geschwindigkeit von zweiundachtzig bis siebenundachtzig Kilometern in der Stunde erreicht haben musste und Teile des Oberkörpers meines Vaters auf die Eisenstangen einer eingebauten Leiter prallten, die aus der Westwand des Tunnels herausragte – diese Leiter war eingebaut worden, um dem Wartungspersonal der CTA den Zugang zu einem Kasten mit Mehrfachbus-Prozessoren in der Tunneldecke zu erleichtern –, und Trauma, Verwirrung, Schock, Lärm, Geschrei, Regen kleiner Einzelpäckchen und die nachgerade panische Flucht vom Bahnsteig, während mein Vater eine zunehmend kraftvolle Hochgeschwindigkeitsschneise durch die dichte Menge der Einkaufenden schlug, disqualifizierten auch die wenigen dort verbliebenen Menschen – die mehrheitlich verletzt waren oder Verletzungen geltend machten – als »verlässliche« Zeugen, die die Ermittler hätten befragen können. Schock ist bei Situationen im Angesicht des Todes offenbar häufig anzutreffen. Weniger als eine Stunde nach dem Unfall konnten sich die Zuschauer anscheinend nur noch an Schreie, den Verlust von Weihnachtseinkäufen, die Sorge um das eigene leibliche Wohl und plastische, aber bruchstückhafte Einzelheiten der Erregung und der Handlungen meines Vaters erinnern, an diverse Kräuselungen, die der zunehmend brausende Luftzug an seinem Mantel und Schal verursachte, sowie an die aufeinanderfolgenden Verletzungen, die er sich zuzog, als er immer schneller zum Bahnsteigende davongeschleift wurde und voll oder teilweise mit einem Drahtmülleimer kollidierte, mehreren umherfliegenden Päckchen und Einkaufstüten, den Stahlnieten einer Säule und dem aus Stahl oder Aluminium bestehenden Kofferkuli eines älteren Pendlers – der Kofferkuli wurde durch den Zusammenprall irgendwie quer durch den Tunnel auf die Gleise Richtung Norden geschleudert und ließ an der Stromschiene Funken sprühen, was die Panik der chaotischen Menge noch steigerte. Ich erinnere mich, dass ein junger Latino, vielleicht ein Puerto Ricaner, der eine Art enges schwarzes Haarnetz trug, befragt wurde, der den rechten Schuh meines Vaters hielt, einen Florsheim-Halbschuh mit Fransen, dessen Zehenpartie und Rahmen der Beton des Bahnsteigs so abgeschabt hatte, dass sich der vordere Teil der Sohle gelöst hatte und lose herabhing, und dass der Mann nicht sagen konnte, wie er zu dem Schuh gekommen war. Auch ihm wurde später ein Schockzustand attestiert, und ich erinnere mich noch genau, dass ich diesen Latino später in der Triagezone der im Loyola Marymount Hospital eingerichteten Notaufnahme nur wenige Blocks vom CTA -Bahnhof Washington Square entfernt wiedersah, wie er auf einem Plastikstuhl saß, auf einem Klemmbrett Formulare mit einem Kugelschreiber auszufüllen versuchte, der mit weißem Bindfaden am Klemmbrett befestigt war, und immer noch den Schuh

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