Der bleiche König: Roman (German Edition)
wahrscheinlich noch tragischer wurde. Der Unfall geschah nicht in der berühmten Hochbahn der CTA – wir waren beide im U-Bahnhof Washington Square, wohin wir mit der Regionalbahn aus Libertyville gefahren waren, um in eine U-Bahn Richtung Zentrum umzusteigen. Ich glaube, unser eigentliches Ziel war der Souvenirladen vom Art Institute. Ich weiß noch, dass ich übers Wochenende bei meinem Vater wohnte, jedenfalls teilweise, weil ich für die erste Runde meiner Abschlussprüfungen im wiederaufgenommenen Studium an der DePaul wahnsinnig viel zu lernen hatte. An der DePaul wohnte ich in einem Wohnheim auf dem Loop-Campus. Im Rückblick könnte ein Grund meiner Rückkehr nach Libertyville zum Büffeln gewesen sein, meinem Vater zu demonstrieren, wie ernsthaft ich mich an einem Wochenende dem Studium widmete, obwohl ich mich nicht erinnern kann, dass mir diese Motivation damals bewusst gewesen wäre. Und nur, falls Sie damit nicht vertraut sind: Das Zugsystem der CTA ist eine Gemengelage aus Hochbahn, konventioneller U-Bahn und Hochgeschwindigkeits-Regionalzügen. Wie zuvor verabredet, begleitete ich ihn am Samstag in die Stadt und half ihm bei der Suche nach Weihnachtsgeschenken für Joyce und meine Mutter – eine Aufgabe, die er wohl jedes Jahr schwierig fand – und wahrscheinlich auch für seine Schwester, die mit Mann und Kindern in Fair Oaks, Oklahoma, lebt.
Als wir im U-Bahnhof Washington Square dann Richtung Zentrum umstiegen, gingen wir im U-Bahn-Bereich die Betontreppe hinab in die dichte Menschenmenge und die Hitze des Bahnsteigs – selbst im Dezember sind die U-Bahn-Tunnel in Chicago heiß, wenn auch längst nicht so unerträglich wie in den Sommermonaten, aber andererseits unterzieht man sich der Hitze der Bahnsteige dann in Wintermänteln und Schals, dazu herrschte großer Andrang, weil es eben der Weihnachtsansturm auf die Geschäfte war mit der zusätzlichen Raserei und dem Chaos, weil in diesem Jahr darüber hinaus auch noch die progressive Mehrwertsteuer galt. Jedenfalls erinnere ich mich, dass wir genau in dem Augenblick den Fuß der Treppe und die Menge auf dem Bahnsteig erreichten, als die Bahn einfuhr – sie war aus Edelstahl und hellbraunem Plastik, mit sowohl ganz als auch teilweise abgerissenen Stechpalmenfolien an einigen Waggonfenstern – und die Automatiktüren mit einem Druckluftzischen aufglitten, und dann stand die U-Bahn einen Moment im Leerlauf da, und beladen mit zahllosen Kleineinkäufen stiegen Unmengen von ungeduldigen Weihnachtseinkäufern ein und aus. Was das Gedränge angeht, handelte es sich auch noch um die Hauptgeschäftszeit am Samstagnachmittag. Mein Vater hatte seine Einkäufe am Vormittag erledigen wollen, bevor die Massen in der Innenstadt völlig außer Kontrolle gerieten, aber ich hatte verschlafen, und er hatte auf mich gewartet, obwohl er darüber alles andere als erfreut gewesen war und das auch nicht verhehlte. Wir brachen dann schließlich nach dem Mittagessen auf – was in meinem Fall das Frühstück war –, und schon in der Regionalbahn in die Stadt hatten wir uns von den Mengen intensiv bedrängt gefühlt. Und jetzt erreichten wir den noch überfüllteren Bahnsteig auch noch in einem Augenblick, den wohl die meisten U-Bahn-Fahrgäste prekär und irgendwie stressig finden, wenn die U-Bahn im Leerlauf und mit offenen Türen dasteht, man aber nie weiß, wie lange sie noch offen bleiben, während man sich durch die Mengen auf dem Bahnsteig schiebt und die Bahn zu erreichen versucht, ehe die Türen zugehen. Man will nicht laufen oder Leute aus dem Weg schubsen, weil der rationale Teil von einem selbst weiß, dass es kaum eine Angelegenheit auf Leben und Tod ist, dass gleich die nächste Bahn kommt, dass man diese schlimmstenfalls verpasst und die Türen zugehen, wenn man gerade vor ihnen angelangt ist, und man ein paar Minuten auf dem heißen, überfüllten Bahnsteig warten muss. Und doch gerät ein anderer Teil von einem selbst – oder jedenfalls von mir, aber von meinem Vater auch, glaube ich im Rückblick – immer fast in Panik. Die Vorstellung, die Türen würden sich schließen und die U-Bahn könnte mit den Menschenmengen, die es noch rechtzeitig hineingeschafft hätten, in genau dem Augenblick abfahren, in dem man die Türen erreicht, erzeugt eine Art seltsames, unwillkürliches Gefühl der Unruhe oder Dringlichkeit – ich glaube nicht, dass es in der Psychologie dafür einen eigenen Begriff gibt, aber es könnte mit archaischen, prähistorischen
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