Der bleiche König: Roman (German Edition)
Mehrwertsteuersatz von 3,75 Prozent für Einkäufe unter einer Kaufsumme von 5 Dollar auszunutzen. Der Unterschied zwischen 8 Prozent und 3,75 Prozent ist ein mehr als ausreichender Anreiz, um den ökonomischen Eigennutz des Bürgers zu wecken. Plötzlich kaufte alle Welt Lebensmittel für unter 5 Dollar, lief zum Wagen, stellte die kleine Tüte in den Kofferraum, lief wieder rein, kaufte wieder für unter 5 Dollar ein, lief wieder zum Wagen usw. usf. Die Schlangen vor den Kassen reichten durch den ganzen Supermarkt. In den Warenhäusern war es genauso schlimm und an den Tankstellen meines Wissens sogar noch schlimmer – nur wenige Monate nach dem Embargoschock der OPEC und den Prügeleien in den Autoschlangen vor den Zapfsäulen wegen der Rationierung kam es jetzt in diesem Herbst in Illinois wieder zu Prügeleien an den Tankstellen, denn Fahrer mussten warten, weil die Leute vor ihnen an der Zapfsäule für 4,99 Dollar tankten, reinliefen, zahlten, rauskamen, die Zapfsäule auf null stellten, wieder für 4,99 Dollar tankten usw. Es war, gelinde gesagt, das Gegenteil einer soften Erfahrung. Und der Verwaltungsaufwand der Berechnung der Mehrwertsteuer über vier verschiedene Einkaufsmargen brach dem Einzelhandel fast das Genick. In den Geschäften mit automatischen Registrierkassen und computergestützten Kassensystemen kam es durch die Datenbelastung zu Systemabstürzen. Meines Wissens wurden die hohen Verwaltungskosten der neuen Buchführung abgewälzt, was in Illinois einen sprunghaften Anstieg der Inflation verursachte, der die Verbraucher zusätzlich erzürnte, die wegen der progressiven Mehrwertsteuer schon genervt genug waren, weil die sie aus ökonomischen Gründen zwang, sich in vielen Fällen ein halbes Dutzend Mal und mehr an der Kasse anzustellen. Es kam zu Unruhen, besonders im Süden des Staates, der an Kentucky grenzt und dem staatlichen Bedürfnis, Steuern zu erheben, von vornherein wenig verständnisvoll oder aufgeschlossen gegenübersteht. Im Grunde genommen sind der Norden, die Mitte und der Süden von Illinois kulturell gesprochen verschiedene Länder. Aber das Chaos herrschte im ganzen Staat. Der Landesfinanzminister wurde in effigie verbrannt. Die Banken erlebten einen Ansturm auf Eindollarscheine und Kleingeld. Unter dem Aspekt der Verwaltungskosten wurde es am schlimmsten, als einfallsreiche Unternehmen neue Geschäftsmöglichkeiten witterten und »teilbar!« als Verkaufsanreiz nutzten. Dazu gehörten beispielsweise Gebrauchtwagenhändler, die bereit waren, einem ein Auto in Form einer Anhäufung separater Kleintransaktionen für Frontstoßstange, rechter Hinterradschacht, Lichtmaschinenspule, Zündkerze usw. zu verkaufen, eine Anschaffung in Gestalt Tausender kleiner Transaktionen über 4,99 Dollar. Technisch gesehen war das völlig legal, und bald folgten auch Großhändler diesem Beispiel – aber so richtig in die Binsen ging die Sache erst, als auch Immobilienmakler mit solchen Unterteilungen anfingen, Banken, Hypothekenmakler, Rohstoff- und Rentenhändler. Die Finanzverwaltung von Illinois musste zusehen, wie ihre Datenverarbeitungssysteme den Geist aufgaben – die progressive Mehrwertsteuer produzierte eine richtige Flutwelle an Informationen über geteilte Umsätze, die die damals existierende Technologie absaufen ließ. Die ganze Angelegenheit wurde nach nicht mal vier Monaten wieder aufgehoben. Die Abgeordneten des Staats kamen sogar aus ihren parlamentarischen Weihnachtsferien nach Springfield zurück und beraumten Sitzungen an, um das Gesetz zurückzuziehen, denn dieser Zeitraum war für den Einzelhandel die größte Katastrophe aller Zeiten gewesen – das Weihnachtsgeschäft des Jahres 1977 war ein Albtraum, über den sich die Menschen manchmal heute noch, Jahre danach, reumütig mit wildfremden Leuten unterhalten, wenn sie hier im Staat in der Schlange stehen. Ähnlich wie extreme Hitzewellen die Menschen dazu bringen, ihre Erinnerungen an andere schreckliche Sommer auszutauschen. Springfield ist, nebenbei bemerkt, die Hauptstadt des Bundesstaats und verfügt außerdem über Wahnsinnsmengen an Lincoln-Memorabilien.
Es war jedenfalls genau in jener Zeit, dass mein Vater unerwartet bei einem U-Bahn-Unfall der Chicago Transit Authority zu Tode kam, in diesem fast unbeschreiblich schrecklichen und chaotischen Weihnachtsansturm im Dezember 1977, und der Unfall ereignete sich de facto, als auch er am Wochenende seine Weihnachtseinkäufe erledigen wollte, wodurch das Ganze
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