Der bleiche König: Roman (German Edition)
sein schien, ob er gemocht oder von den Studenten für cool oder sympathisch gehalten wurde, und ich erkannte – nachdem ich zum Service gegangen war –, welch eine mächtige Eigenschaft diese spezifische Gleichgültigkeit bei einer Autoritätsperson sein konnte. Rückblickend könnte der Ersatzdozent sogar die erste echte Autoritätsperson gewesen sein, der ich je begegnet bin, d. h. eine Person mit echter »Autorität« und nicht nur der Befugnis, einen zu benoten oder einem von ihrer Seite des Generationskonflikts aus die Daumenschrauben anzulegen, und mir wurde zum ersten Mal bewusst, dass »Autorität« tatsächlich etwas Echtes und Authentisches war, dass eine echte Autorität nicht dasselbe ist wie ein Freund oder jemand, der einen mag, einem aber trotzdem guttun kann, und dass das Verhältnis zur Autorität kein »demokratisches« von gleich zu gleich ist, aber trotzdem für beide Seiten, beide Menschen, in dem Verhältnis Wert haben kann. Ich glaube, ich kann das nicht besonders gut erklären – aber es stimmt: Ich fühlte mich ausgewählt, auf diese Augen aufgespindelt in einer Art, die ich weder mochte noch ablehnte, der ich mir aber definitiv bewusst war. Es war eine bestimmte Macht, die ihm zu Gebote stand und die ich ihm freiwillig einräumte. Dieser Respekt war etwas anderes als Nötigung, aber eine Macht war es sehr wohl. Es war alles sehr seltsam. Ich sah auch, dass er jetzt in einer Art militärischer »Rührt euch!«-Position die Hände hinter dem Rücken hatte.
Zu den Wirtschaftsstudenten sagte er: »Nun denn. Bevor Sie aufbrechen und die grobe Annäherung an ein menschenwürdiges Dasein wieder aufnehmen, die sie bis jetzt Leben zu nennen belieben, möchte ich Sie über gewisse Wahrheiten in Kenntnis setzen. Sodann werde ich Ihnen unterbreiten, wie Sie auf diese Wahrheiten meines Erachtens am nützlichsten reagieren können.« (Mir war sofort klar, dass er jetzt wohl nicht mehr über die Abschlussprüfung in Steuerprüfung II sprach.) Er sagte: »Sie werden in den Ferien zu Ihren Familien nach Hause zurückkehren, und in diesen Feiertagen vor dem letzten Vorbereitungsdruck der CPA -Prüfung werden Sie – glauben Sie mir – unschlüssig sein, Sie werden Angst und Zweifel spüren. Das ist ganz natürlich. Sie werden, wohl zum ersten Mal, Angst vor den Sottisen Ihrer Jugendfreunde über die vor Ihnen liegende Laufbahn im Rechnungswesen haben, Sie werden den Beifall im Lächeln Ihrer Eltern als Bestätigung Ihrer Kapitulation auffassen – oh, ich weiß, wovon ich rede, meine Herren; ich kenne jeden Pflasterstein des vor Ihnen liegenden Weges. Denn die Stunde naht. In dem buchstäblich haarsträubenden Augenblick, in dem Sie vor dem Sprung ins Ungewisse hinabblicken, werden Sie qualvolle Prognosen über die schiere Schinderei des von Ihnen gewählten Berufs hören, den Mangel an Spannung oder der Chance, sich auf den Sportplätzen oder in den Ballsälen des Lebens hervorzutun.« Gut, zum Teil verstand ich das nicht ganz – ich glaube, die wenigsten von uns im Seminarraum hatten Zeit damit verbracht, »sich in Ballsälen hervorzutun«, aber vielleicht war das auch bloß eine Frage der Generationen –, er meinte es offenbar metaphorisch. Ich schnallte jedenfalls sofort, dass er sagen wollte, das Rechnungswesen gelte als nicht sonderlich prickelnder Beruf.
Der Ersatzdozent fuhr fort: »Die Festlegung wird ein Verlust an Alternativen sein, ein kleiner Tod, der Tod der grenzenlosen Möglichkeiten der Kindheit, der Schmeichelei einer Wahl ohne Zwang – das werden Sie erfahren, lassen Sie sich das gesagt sein. Das Ende der Kindheit. Der erste von vielen Toden. Zögern ist natürlich. Zweifeln ist natürlich.« Er lächelte sanft. »In drei Wochen werden Sie sich, so Ihnen der Sinn danach steht, vielleicht an diesen Raum, den heutigen Tag sowie die folgenden Informationen erinnern wollen.« An einem Übermaß an Bescheidenheit oder Zurückhaltung litt er offenbar nicht gerade. Andererseits klang die Form seiner Ansprache an jenem Tag in Steuertheorie und -praxis II längst nicht so formell oder überladen wie jetzt, wo ich sie wiederhole – oder besser, sein Schlussplädoyer war formell und ein bisschen poetisch, dabei aber nicht künstlich, sondern eher eine natürliche Erweiterung dessen, wer und was er war. Es war keine Pose. Ich weiß noch, dass ich damals dachte, er beherrsche vielleicht den Trick von Uncle-Sam-Postern und gewissen Gemälden, deren Augen einen immer zu verfolgen scheinen, egal
Weitere Kostenlose Bücher