Der bleiche König: Roman (German Edition)
die Nation seiner Forderung nach Schluss machen sollte, wofür er ausgelacht worden war), in Wahrheit nicht komisch war, kein bisschen komisch, sondern eigentlich nur Furcht einflößend oder traurig oder sonst was –, etwas, was ich nicht auf den Begriff bringen kann, weil es dafür keinen Begriff gibt. Auf dem Sofa wusste ich, dass ich vielleicht ein echter Nihilist war, dass es nicht nur um eine hippe Pose ging. Dass ich mich treiben und alles sausen ließ, weil nichts etwas bedeutete, weil keine Entscheidung wirklich besser war. Dass ich gewissermaßen zu frei war oder dass diese Freiheit gar nicht echt war – ich konnte »Was soll’s?« wählen, weil es eigentlich keine Rolle spielte. Dass aber auch das auf eine Entscheidung meinerseits zurückging – ich hatte mich irgendwie dafür entschieden, dass nichts eine Rolle spielte. Das fühlte sich alles viel weniger abstrakt an als der Versuch seiner Erklärung. Das alles geschah, während ich bloß dasaß und den Ball kreisen ließ. Der springende Punkt war: Durch diese Entscheidung spielte auch ich keine Rolle mehr. Ich stand für nichts. Wenn ich eine Rolle spielen wollte – und sei es nur vor mir selbst –, konnte ich nicht mehr so frei sein, sondern musste mich für irgendetwas definitiv entscheiden. Auch wenn das nur ein Willensakt war. Alle diese Einsichten kamen rasant und unartikuliert, und ich schaffte nur die Erkenntnisse, wählen und eine Rolle spielen zu müssen – gleichzeitig versuchte ich ja immer noch, As the World Turns zu sehen, was zum Ende jeder einstündigen Folge hin dramatischer und fesselnder zu werden pflegte, da die Macher ja wollten, dass man auch am nächsten Tag wieder einschaltete. Entscheidend ist aber, dass ich eines auf irgendeiner Ebene erkannte: Egal was eine potenziell »verlorene Seele« ausmachte – ich war eine; und das war weder cool noch witzig. Und ich landete, wie gesagt, nur wenige Tage danach versehentlich auf der falschen Seite der Passerelle in der Abschlusssitzung von Steuerprüfung II – einem Thema, an dem ich, wie ich betonen möchte, damals null Interesse hatte, wie ich glaubte. Wie die meisten Menschen außerhalb der Branche stellte ich mir die Steuerbuchhaltung als Domäne pingeliger Männchen mit dicken Brillengläsern und super sortierter Briefmarkensammlung vor, mehr oder weniger das Gegenteil von hip oder cool – und ich glaube, als ich hörte, wie der CBS -Sprecher immer wieder die Oberflächenrealität ausbuchstabierte, und mir plötzlich bewusst wurde, dass ich ihn hörte und unter dem auf den Fingerspitzen kreisenden Ball den kleinen Bildschirm zwischen meinen Knien sah, befähigte mich das, ob nun fälschlicherweise oder nicht, etwas zu hören, was meine Richtung änderte.
Ich erinnere mich, dass im zweiten Stock an jenem Tag der Flurgong ertönt war und das Ende der angesetzten Zeit für Steuerprüfung II verkündet hatte, ohne dass auch nur ein Student Anstalten gemacht hätte, auf dem Stuhl herumzurutschen, Sachen zusammenzupacken, sich über den Tisch zu beugen, um Tasche oder Aktenkoffer aufzuheben, wie das in geisteswissenschaftlichen Seminaren der Fall gewesen wäre, nicht mal, als der Ersatzdozent den Overheadprojektor abstellte, die Leinwand mit einem geschickten Ruck der linken Hand hochschnellen ließ und das Taschentuch wieder in die Jacketttasche steckte. Alle blieben still und aufmerksam. Als die Deckenbeleuchtung wieder anging, schaute ich mich um und sah, dass die Seminarnotizen des älteren Studenten mit dem Schnurrbart neben mir fast unglaublich sauber und strukturiert waren, römische Ziffern für die Hauptthemen der Vorlesung enthielten sowie Kleinbuchstaben, eingerückte Ziffern und doppelt eingerückte Zwischenüberschriften und Zusätze. Seine Handschrift war so sauber wie die eines Schreibautomaten. Und das, obwohl er praktisch im Dunklen geschrieben hatte. Mehrere digitale Armbanduhren piepten synchron zur vollen Stunde. Genau wie im Gegenstück auf der anderen Seite der Passerelle wiesen die Bodenplatten in Garnier 311 das in Institutionen oft anzutreffende Muster eines Schachbretts oder ineinandergreifender Rauten in Beige- und Brauntönen auf, je nach Winkel oder Perspektive des Betrachters. An all das erinnere ich mich klar und deutlich.
Obwohl ich sie erst nach über einem Jahr verstand, nachfolgend ein paar der Vorlesungsthemen des Ersatzdozenten, wie sie in den Notizen des älteren Wirtschaftswissenschaftsstudenten durchnummeriert worden waren:
zurechenbares
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