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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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aus welchem Winkel man sie anschaut. Dass sich all die schweigenden und ernsten älteren Studenten (man hätte eine Stecknadel fallen hören können) vielleicht genauso erwählt und persönlich angesprochen fühlten – dass hätte den besonderen Effekt, den die Ansprache auf mich ausübte, natürlich nicht verändert, und darum ging es im Grunde ja, genau wie die Geschichte der christlichen Freundin es mir längst hätte ausbuchstabieren können, wenn ich nur wach und aufmerksam genug gewesen wäre, um mir anzuhören, worauf sie eigentlich hinauswollte. Aber wie gesagt, mein Selbst, das sich 1973 oder ’74 diese Geschichte anhörte, war das eines nihilistischen Kindes.
    Die Hände immer noch hinter dem Rücken verschränkt, fuhr der Ersatzdozent nach ein oder zwei anderen Kommentaren fort: »Ich möchte Sie darüber in Kenntnis setzen, dass der von Ihnen anvisierte Berufsstand der Wirtschaftsprüfer in Wahrheit heldenhaft ist. Ich möchte dabei betonen, dass ich gesagt habe ›in Kenntnis setzen‹ und nicht ›mutmaßlich‹, ›angeblich‹ oder ›dem Vernehmen nach‹. Die Wahrheit ist: Wenn Sie demnächst zu Weihnachtsliedern, Grog, Büchern und den Leitfäden für die CPA -Prüfung nach Hause fahren, stehen Sie an der Schwelle des – Heldentums.« Das war natürlich ganz klar dramatisch und fesselte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Ich weiß noch, als er das sagte, musste ich wieder an das Zitat auf der Folie des Overheadprojektors denken, das ich für biblisch gehalten hatte: »das moralische Äquivalent des Krieges«. Es schien seltsam, aber nicht lächerlich. Ich merkte, dass mein Nachdenken über dieses Zitat wahrscheinlich das erste Mal war, dass ich über das Wort moralisch in einem anderen Kontext als dem einer Seminararbeit nachdachte – auch das gehörte zu dem Komplex, den ich erstmals ein paar Tage zuvor erahnt hatte, zu der Erfahrung, als ich As the World Turns gesehen hatte. Der Ersatzdozent war nur von durchschnittlicher Größe. Er ließ seine Blicke nicht schweifen und behielt jeden im Auge. Einige Studentenbrillen spiegelten noch das Licht wider. Ein paar machten sich auch immer noch Notizen, aber davon abgesehen sprach oder bewegte sich nur der Ersatzdozent.
    Ohne innezuhalten, fuhr er fort: »Präzis? Prosaisch? Barbarisch bis zur Fronarbeit? Manchmal. Oft öde? Vielleicht. Aber mutig? würdig? gebührend und gut? romantisch? ritterlich? heldenhaft?« Seine Kunstpausen waren keine Effekthascherei – oder nicht nur. »Meine Herren«, sagte er, »– womit ich natürlich Heranwachsende meine, die vor dem Übertritt ins Mannesalter stehen –, meine Herren, dies ist eine Wahrheit: Wahrer Mut bedeutet, über lange Zeit hinweg auf engem Raum Langeweile zu ertragen. Dieses Durchhaltevermögen ist zufälligerweise die Essenz dessen, was in dieser Welt, die weder Sie noch ich erschaffen haben, Heldentum ausmacht. Heldentum.« Er machte eine Pause, sah sich um und taxierte die Reaktionen der Anwesenden. Niemand lachte; einige wirkten verwirrt. Ich erinnere mich, dass ich allmählich Harndrang verspürte. Im Neonlicht des Seminarraums warf er keine Schatten. »Und damit meine ich wahres Heldentum«, sagte er, »nicht das Heldentum, das Sie vielleicht aus Filmen oder Kindermärchen kennen. Sie haben fast das Ende der Kindheit erreicht; jetzt können Sie das Gewicht der Wahrheit ertragen. Die Wahrheit ist, dass das Heldentum Ihrer Gutenachtgeschichten keine echte Tapferkeit war. Es war Theater. Die großen Gesten, der Augenblick der Entscheidung, die Todesgefahr, der äußere Feind, die Entscheidungsschlacht, von deren Ausgang alles Weitere abhängt – das alles diente nur dazu, heldenhaft zu erscheinen, um ein Publikum zu erregen und zu befriedigen. Ein Publikum.« Er machte eine Geste, die ich nicht beschreiben kann: »Meine Herren, willkommen in der Wirklichkeit – es gibt kein Publikum. Kein Publikum und keinen Applaus. Niemand sieht Sie. Verstehen Sie? Das ist die Wahrheit – echtes Heldentum erhält keine stehenden Ovationen und unterhält niemanden. Niemand steht Schlange, um es zu sehen. Niemand interessiert sich dafür.«
    Er unterbrach sich wieder und lächelte auf eine Weise, die keine Spur von Selbstironie enthielt. »Wahres Heldentum, das sind Sie allein in einem genau definierten Arbeitsbereich. Wahres Heldentum, das sind Minuten, Stunden, Wochen, Monate und Jahre der stillen, präzisen und umsichtigen Ausübung von Sorgfalt und Redlichkeit – und niemand sieht zu und jubelt.

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