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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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täuschen Sie sich nicht, sie sind wahrhaft furchterregend. Denn sie sind real.«
    An dieser Stelle meldete sich ein Student des Rechnungswesens, und der Ersatzdozent hielt kurz inne, um eine Frage zur angepassten Bewertungsgrundlage für die Kostenrechnung in der steuerlichen Einstufung von Geschenken zu beantworten. Ich hörte, wie er im Rahmen dieser Antwort die Wendung » IRS -Schlängler« gebrauchte. Seit jenem Tag habe ich diesen Begriff nie mehr außerhalb des Prüfzentrums gehört, an dem ich zum Einsatz kam – im Service ist das ein Insider-Kürzel für eine bestimmte Gruppe von Steuerprüfern. Heute sage ich mir, dass das ganz entschieden ein Hinweis auf Erfahrung und Hintergrund des Ersatzdozenten hätte sein müssen. (Da fällt mir ein, »FASB« stand für Financial Accounting Standards Board , das oberste Gremium für Bilanzierungsregeln der USA , aber das erfuhr ich natürlich auch erst, nachdem ich im Jahr darauf zum Service gegangen war.) Ich muss wohl auch ein offenkundiges Paradox meiner Erinnerungen einräumen – obwohl ich aufmerksam war und mich von seinen Bemerkungen zum Mut und zur wahren Welt angesprochen fühlte, war mir nicht bewusst, dass das Drama und das Koruszieren, das ich den Worten des Ersatzdozenten beimaß, dem ganzen Tenor dieser Worte im Grunde zuwiderlief. Mit anderen Worten, ich war von der Paränese tief bewegt und verändert, aber heute hat es den Anschein, als hätte ich gar nicht wirklich verstanden, wovon er redete. Im Rückblick scheint mir das ein weiterer Beweis dafür, dass ich noch viel »verlorener« und unwissender war, als ich ahnte.
    »Übertrieben, finden Sie?«, sagte er. »Cowboy, Paladin, Held? Schauen Sie sich die Geschichte an, meine Herren. Der Held von gestern verschob Grenzen und Demarkationslinien – er annektierte, zähmte, fällte, formte, kreierte und setzte in die Welt. Die Helden der Gesellschaft von gestern schufen Fakten. Denn nichts anderes ist Gesellschaft – eine Anhäufung von Fakten.« (Je mehr echte Studenten in Steuertheorie und -praxis II mäuschenstill aufstanden und gingen, desto mehr hatte ich natürlich das Gefühl, auf einzigartige und besondere Weise angesprochen zu werden. Der ältere Wirtschaftsstudent neben mir mit den üppigen, perfekt gestutzten Koteletten und der unglaublichen Seminarmitschrift schaffte es, die Metallverschlüsse seines Aktenkoffers ohne jedes Geräusch zu schließen. Auf dem Drahtgitter unter seinem Pult lag ein Wall Street Journal, das er entweder nicht gelesen oder aber nach der Lektüre wieder so säuberlich zusammengefaltet hatte, dass es unberührt aussah.) »Wir leben aber in der Jetztzeit, der Moderne«, sagte der Ersatzdozent (wogegen sich natürlich schwer etwas sagen ließ). »In der heutigen Welt sind die Grenzen festgelegt, und die meisten wichtigen Fakten sind erschaffen. Meine Herren, die letzte Grenze des Helden von heute liegt im Ordnen und Strukturieren dieser Fakten. Klassifikation, Organisation, Präsentation. Anders gesagt, der Kuchen ist gebacken – heute gilt der Wettstreit seiner Aufteilung. Sie, meine Herren, trachten danach, das Messer zu halten. Führen Sie es. Zur Zuteilung. Um jedes Kuchenstück zu formen, den Winkel des Messers und die Tiefe des Schnitts festzulegen.« Wie gebannt ich auch war, an dieser Stelle merkte ich doch, dass sich die Metaphern des Ersatzdozenten ein bisschen verhedderten – ich konnte mir kaum vorstellen, wie sich die verbliebenen Asiaten auf die uramerikanischen Bilder von Cowboys und Kuchen einen Reim machen sollten. Der Ersatzdozent ging zur Fahnenstange in der Ecke und griff nach seinem Hut, einem dunkelgrauen Filzhut, alt, aber sehr gut gepflegt. Er setzte ihn nicht auf, sondern hielt ihn empor.
    »Ein Bäcker trägt einen Hut«, sagte er, »aber das ist nicht unser Hut. Seien Sie bereit, den Hut zu tragen, meine Herren. Haben Sie sich mal gefragt, warum alle wahren Rechnungsprüfer Hüte tragen? Weil sie die Cowboys von heute sind. Und auch Sie werden das sein. Amerikas Weiten durchreiten. Die endlosen Sturzfluten der Finanzdaten im Auge behalten. Die Strudel, Katarakte, gestalteten Variationen, widerspenstigen Details. Sie ordnen die Daten, hüten sie, lenken ihre Ströme, führen sie in der jeweils angemessen kodifizierten Gestalt dorthin, wo sie passen. Sie handeln mit Fakten, meine Herren, für die es einen Markt gegeben hat, seit der Mensch aus dem Urschlamm kroch. Sie sind das – sagen Sie denen das. Sie reiten, bemannen die Zinnen,

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