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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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Das ist die Welt. Nur Sie und der Job, an Ihrem Schreibtisch. Sie und die Steuererklärung, Sie und die Cashflowdaten, Sie und die Lagerbestandsbücher, Sie und die Abschreibungspläne, Sie und die Zahlen.« Seine Stimme war absolut sachlich. Plötzlich merkte ich, dass ich keine Ahnung hatte, wie viele Wörter er seit dem 8.206ten am Ende des Repetitoriums gesagt hatte. Ich nahm wahr, dass jede Einzelheit im Seminarraum sehr deutlich und ausgeprägt erschien, peinlich genau gezeichnet und schattiert, und gleichzeitig konzentrierte ich mich hundertprozentig auf den jesuitischen Ersatzdozenten, der diese ganzen dramatischen oder sogar romantischen Sachen sagte, ohne sie mit dem üblichen dramatischen Brimborium auszuschmücken, er stand ganz ruhig da, hatte die Hände wieder hinter dem Rücken verschränkt (ich weiß, dass er die Hände nicht gefaltet hatte – irgendwie wusste ich, dass er eher das rechte Handgelenk mit der linken Hand umfasst hielt), und die Flächen seines Gesichts waren im weißen Licht schattenlos. Es fühlte sich an, als stünden er und ich an den beiden Enden einer Art Rohr oder Schlauch und als wendete er sich an mich ganz persönlich – obwohl das natürlich in Wahrheit gar nicht möglich war. In Wahrheit wandte er sich zuallerletzt an mich, denn ich war offenkundig gar nicht für Steuertheorie und -praxis II eingeschrieben, bereitete mich auf keine Abschlussprüfung vor und würde auch nicht nach Hause fahren und am alten Pult im Kinderzimmer meines Elternhauses für die gefürchtete CPA -Prüfung büffeln, so wie das anscheinend viele andere im Raum machen würden. Trotzdem ist ein Gefühl ein Gefühl – wie ich gern früher verstanden hätte, denn es hätte mir viel Zeit und zynisches Treibenlassen erspart –, und mit Ergebnissen lässt sich nicht streiten.
    Derweil sagte der Ersatzdozent jedenfalls, und das schien so eine Art Rekapitulation seiner Schwerpunkte zu sein: »Wahres Heldentum ist a priori unvereinbar mit Publikum, Applaus oder auch nur der bloßen Kenntnisnahme durch die breite Masse. Man könnte sogar sagen«, sagte er, »je weniger eine Arbeit im herkömmlichen Sinne heldenhaft, aufregend, ins Auge springend oder auch nur interessant oder fesselnd erscheint, desto größer ist ihr Potenzial als Schauplatz wahren Heldentums und ergo als Nennwert einer für Sie alle unvorstellbaren Lust.« Plötzlich schien der ganze Raum zu erschauern, vielleicht war es auch ein Ekstasekrampf, der sich so rasch vom einen Prüfungskandidaten des Rechnungswesens oder graduierten Wirtschaftswissenschaftler zum nächsten Prüfungskandidaten des Rechnungswesens oder graduierten Wirtschaftswissenschaftler fortpflanzte, dass die ganze Gruppe für einen Augenblick erschauerte – aber auch hier bin ich nicht hundertprozentig sicher, ob das wirklich so war, ob es sich wirklich außerhalb meiner Person im realen Seminarraum zutrug, und der Augenblick des (möglicherweise) kollektiven Spasmus war zu kurz, als dass man ihn mehr als nur flüchtig hätte wahrnehmen können. Ich erinnere mich auch, dass ich das starke Bedürfnis hatte, mich vorzubeugen und mir die Schnürsenkel zu binden, was ich dann aber doch nicht tat.
    Gleichzeitig sollte man der Fairness halber dazusagen, dass der jesuitische Ersatzdozent meiner Erinnerung zufolge Kunstpausen ähnlich einsetzte, wie konventionellere Erweckungsprediger Gestik und Mimik einsetzen. Er sagte: »Jedes Detail innerhalb des brodelnden Gewimmels aus Daten, Regeln, Ausnahmen und Einschränkungen, aus denen Rechnungsprüfungen in der wahren Welt bestehen, mit derselben Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit zu behandeln – das ist Heldentum. Sich voll und ganz den Interessen des Klienten zu widmen und diese Interessen gegen die hohen ethischen Standards des FASB und des geltenden Rechts auszubalancieren – fürwahr, jenen zu dienen, denen der Service egal ist und für die nur Resultate zählen –, das ist Heldentum. Es ist vielleicht das erste Mal, dass Sie die Wahrheit hören, schonungslos und unmissverständlich. Zurückhaltung. Verzicht. Dienen. Sich der Sorge um das Geld anderer hinzugeben – das ist Zurückhaltung, Assiduität, Verzicht, Ehre, Reckentum, Heldenmut. Ob Sie das vernehmen oder nicht, ist Ihnen freigestellt. Ob Sie es jetzt lernen oder später – die Welt hat Zeit. Routine, Wiederholung, Öde, Monotonie, Kaduzität, Inkonsequenz, Zerstreutheit, Befindlichkeitsstörungen, Langeweile, Angst, Ennui – das sind die Feinde des wahren Helden, und

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