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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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jetzt knapp anderthalb Meter hoch und noch viel höher an Stellen, wo Hochgeschwindigkeitsschneepflüge die Straßen geräumt und an den Seiten riesige Schneewälle aufgetürmt hatten und wo man fast durch einen Tunnel oder ein Kirchenschiff gehen musste, um überhaupt den Gehweg zu erreichen, auf dem man dann ausrutschte, wenn man an einem Anwesen vorbeikam, dessen Eigentümer nicht genug Bürgersinn mitbrachte, um den Gehweg freizuschaufeln. Ich trug eine grüne Cordhose mit Schlag, der bald bis zu den Knien hochrutschte, und an meinen schweren Timberlands – die nicht besonders rutschfest waren, wie ich hatte feststellen müssen – pappte kiloschwerer Schnee. Es war so hell, dass man kaum sehen konnte. Man fühlte sich wie bei einer Polarexpedition. Wenn die Gehwege unpassierbar waren, musste man versuchen, wieder über die Schneewälle zu klettern und auf der Straße weiterzugehen. Es versteht sich wohl von selbst, dass kaum Verkehr herrschte. Die Straßen glichen jetzt eher Schluchten mit rein weißen Wänden, und die hohen Schneewehen und die Gebäude im Geschäftsviertel dahinter warfen komplexe oben abgeflachte Schatten, die manchmal Balkendiagramme bildeten, über die man einfach hinwegschritt. Ich hatte einen Bus finden können, der bis Grant Park fuhr, aber nicht weiter. Auf dem zugefrorenen Fluss türmte sich der Schnee, den die Schneepflüge dort abgeladen hatten. Ich weiß, wohlgemerkt, dass der große Schneesturm von 1979 kaum jemanden außerhalb des Großraums Chicago heute noch interessieren dürfte, aber für mich war es eine bewegte und entscheidende Zeit, und die Erinnerungen daran sind ungewöhnlich klar und scharf. Für mich ist diese erinnerte Klarheit ein weiteres Zeichen dafür, dass in meiner Bewusstwerdung und Zielsetzung eine klare Trennlinie zwischen vor und nach dem Ersatzdozenten in Steuertheorie und -praxis II verlief. Es war weniger die Rhetorik von Heldentum und Viehhüten, die mir schon damals überspannt vorkam (man kann’s auch übertreiben). Ich glaube, teilweise war ich so elektrisiert, weil der Ersatzdozent die Welt und die Realität als letztlich schon ergründet und gestaltet diagnostizierte, weil er die sie konstituierenden Informationen schon erzeugt und nur die Entscheidung für das Hüten, Einpferchen und Organisieren dieser Sturzfluten an Informationen heute noch substanziell fand. Für mich klang das glaubhaft, wenn auch auf einer Ebene, deren Existenz mir damals noch gar nicht ganz klar war.
    Es war dann jedenfalls gar nicht so leicht zu finden. Ich kann mich erinnern, dass von einigen Stoppschildern an den Ecken nur noch die oberen polygonalen Schildteile aus den Schneewällen herausragten, und bei etlichen Geschäftseingängen waren die Briefschlitze geöffnet festgefroren, und der Wind hatte lange Schneezungen auf die Teppiche geweht. Viele Versorgungs- und Müllfahrzeuge der Stadt hatten Schneeschaufeln an den Kühlern befestigt und dienten als zusätzliche Schneepflüge, womit der Bürgermeister von Chicago auf die öffentliche Empörung wegen der ineffizienten Schneeräumung reagierte. An der Balbo standen Überreste von Schneemännern in den Vorgärten, an deren Größe sich das Alter ihrer Erbauer ablesen ließ. Der Sturm hatte teilweise ihre Augen und Pfeifen weggeweht oder ihre Gesichtszüge umgestaltet – von Weitem sahen sie unheimlich oder geistesgestört aus. Es war sehr still und so hell, dass man hinter den geschlossenen Lidern aufgehelltes Blutrot sah. Das harsche Scharren von Schneeschaufeln war zu hören und in der Ferne ein hohes Knurren, und erst später begriff ich, dass das von einem oder mehreren Schneemobilen auf der Roosevelt Road kam. Die Schneemänner in den Gärten trugen manchmal die alten oder ausrangierten Hüte eines Vaters. Oben in einem sehr hohen, verklumpten Schneewall steckte ein aufgespannter Regenschirm, und ich erinnere mich, ein paar Minuten lang panisch gebuddelt und in das Loch hinabgerufen zu haben, weil es so aussah, als wäre jemand mit einem Regenschirm Knall auf Fall verschüttet worden. Es war dann aber nur ein Regenschirm, den jemand aufgespannt und mit dem Griff nach unten in den Schneewall gerammt hatte, vielleicht als Schabernack, als bewusste optische Täuschung der Passanten.
    Es zeichnete sich dann jedenfalls ab, dass der Service kürzlich ein Programm für die Anwerbung neuer fest anzustellender Mitarbeiter entwickelt hatte, ähnlich der neuen Freiwilligenarmee – mit massiver Werbung und allerlei

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