Der bleiche König: Roman (German Edition)
durchs Panoramafenster zu beobachten, und war dazu übergegangen, sich auf die Verandatreppe oder in deren Nähe zu stellen und Futterröhren in die Höhe zu halten, und sie schien bereit, so lange so stehen zu bleiben, bis sie tatsächlich Erfrierungen bekam, wenn niemand einschritt und ihr zuredete, ins Haus zu kommen. Die Zahl und der Geräuschpegel der beteiligten Vögel waren inzwischen ebenfalls zum Problem geworden, worauf uns einige Nachbarn schon vor Beginn des Schneesturms hingewiesen hatten.
Auf einer Ebene bin ich ziemlich sicher, dass es auf WBBM-AM gewesen sein muss – einem sehr trockenen und konservativen Nachrichtensender, den mein Vater gern gehört hatte und dessen Meldungen zu wetterbedingten Ausfällen die umfassendsten der Region waren –, auf dem ich erstmals von der aggressiven neuen Einstellungskampagne des Service hörte. »Der Service« ist natürlich eine Verkürzung des Internal Revenue Service, den Steuerzahler eher als IRS kennen. Ich habe allerdings auch eine lückenhafte Erinnerung daran, wie ich erstmals eine Anzeige für diese Einstellungskampagne auf plötzliche und dramatische Weise sah, die im Rückblick heute so schicksalsschwer und theatralisch wirkt, dass es vielleicht eher die Erinnerung an einen Traum oder eine Phantasmagorie ist, den bzw. die ich damals hatte und in dem bzw. der ich im Food-Court der Galaxy Mall sitze und auf Joyce und meine Mutter warte, die bei Fish ’n Fowl Pet Plaza über den nächsten großen Lieferauftrag verhandeln. Einzelne Elemente dieser Erinnerung sind dabei absolut überzeugend. Es stimmt, ich hatte Probleme damit, zum Verkauf stehende Tiere in Käfigen zu sehen – ich hatte schon immer Schwierigkeiten mit Käfigen und eingesperrten Dingen –, und ich habe oft draußen im Food-Court auf meine Mutter gewartet, während die beiden bei Fish ’n Fowl drin waren. Ich kam mit, um ihr die Körnersäcke zu schleppen, falls ein Lieferauftrag mal abgelehnt wurde oder sich wegen des schlechten Wetters verzögerte, das, woran man sich in Chicago heute noch vielerorts erinnert, geraume Zeit so schlecht blieb und praktisch die ganze Region lahmlegte. In dieser Erinnerung saß ich jedenfalls an einem der vielen stilisierten Plastiktische im Food-Court der Galaxy Mall, starrte geistesabwesend auf das Muster der stern- und mondförmigen Löcher in der Tischplatte und sah durch eines dieser Löcher einen Abschnitt der Sun-Times , die jemand auf den Boden unter dem Tisch geworfen haben musste und die bei den Stellenanzeigen aufgeschlagen war, und zu der Erinnerung gehört auch, dass ich das von oberhalb der Tischplatte so sah, dass ein Lichtstrahl aus der Deckenbeleuchtung des Food-Courts weit über mir durch ein sternförmiges Loch in der Tischplatte fiel und – wie mit einem symbolisch sternenförmigen Punktstrahler oder Lichtfinger – eine bestimmte Anzeige unter all den anderen Inseraten und Bekanntmachungen von Firmen- und Karriereangeboten auf der Seite hervorhob, und das war eine Mitteilung über das neue IRS-Anwerbungsprogramm mit zusätzlichen Anreizen in manchen Landesteilen, zu denen auch der Großraum Chicago gehörte. Ich erwähne diese Erinnerung, ob sie nun genauso authentisch ist wie die prosaischere WBBM -Erinnerung oder nicht, nur als weitere Illustration dafür, dass ich von der Motivation her für eine berufliche Laufbahn im IRS bestens »präpariert« gewesen sein muss.
Die IRS -Personalbeschaffungsstelle für den Großraum Chicago lag in vorübergehend angemieteten Büroräumlichkeiten an der West Taylor Street, gleich neben dem UIC -Campus, wo ich 1975/76 ein freudloses und scheinheiliges Studienjahr verbracht hatte, und fast genau gegenüber der Feuerwehrakademie von Chicago, deren Lehrlinge doch tatsächlich manchmal in voller feuer- und wasserfester Schutzkleidung samt Stiefeln in den Hat reinschneiten, wo ihnen kohlensäurehaltige Drinks strikt verwehrt wurden – was auch wieder eine lange Geschichte wäre, die ich mir hier aber spare. Nur das Podologieschild mit dem rotierenden Fuß war von dieser Seite des Kennedy Expressway zum Glück nicht zu sehen. Der riesige rotierende Fuß stand für eine der Kindereien, die ich nur zu gern hinter mir lassen wollte.
Ich erinnere mich, dass die Sonne endlich durchgebrochen war – allerdings stellte sich später heraus, dass das nur eine befristete Pause, ein »Auge« im Sturmsystem, war und dass sich das Winterwetter zwei Tage später noch einmal verschlimmern sollte. Der Schnee lag
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