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Der bleiche König: Roman (German Edition)

Der bleiche König: Roman (German Edition)

Titel: Der bleiche König: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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dachte an die ganzen kleinen Spiele und Spielzeuge und Entwicklungsprojekte, die meine Mutter immer vorschlug, und fand sie nicht nur in meiner Langeweile reizlos, ich konnte mir auch nicht vorstellen, wie irgendjemand irgendwo bloß die hirnlose Energie aufbringen konnte, sich irgendeinem kindlichen Zeitvertreib hinzugeben oder auch nur lange genug in der Stille dazusitzen und ein Bilderbuch anzusehen – die ganze Welt war abgestumpft, entnervt und sorgenverkeilt. Ich übernahm die Wörter und Gefühle meiner Eltern, als ich die Verantwortung für meine Rolle im Familiendrama akzeptierte: der nervöse, empfindliche Sohn, Objekt der Anteilnahme meiner Mutter, während mein Bruder der begabte, engagierte Sohn war, dessen Klavierspiel nach der Schule das Haus erfüllte und das Zwielicht jenseits der Fenster dort hielt, wo es hingehörte. Beim freien Assoziieren im Rahmen der Psychotherapie nach dem Vorfall mit meinem eigenen Sohn erinnerte ich mich an ein Große-Bücher-Referat in der elften Klasse über Achill und Hektor, und ich weiß noch, wie lebhaft ich mir vorstellte, meine Familie wäre Achill, mein Bruder Achills Schild und ich die Ferse, der Teil der Familie, an den sich meine Mutter klammerte und den sie ungöttlich machte, und dass ich diese Erkenntnis mitten im Referat gehabt und so schnell wieder vergessen hatte, dass ich sie gar nicht festhalten konnte, obwohl ich mich während eines Großteils meiner Jugend und auch noch als junger Erwachsener als Ferse oder Fuß sah – in meinen Selbstvorwürfen bezeichnete ich mich beispielsweise oft als »Ferse«, und es stimmte auch, dass Füße, Schuhe, Socken und Knöchel der Menschen oft das Erste waren, was mir an ihnen auffiel. So wie mein Vater der besiegte, aber intransigente Krieger war, der jeden Tag bei einem Kampf zermahlen wurde, dessen Sinnlosigkeit Teil seiner Zersetzungskraft war. Die Rolle meiner Mutter im Achilleskomplex bleibt unklar. Ich weiß auch nicht genau, ob mein Bruder sich als Kind der Tatsache bewusst war, dass sein nachmittägliches Üben immer mit der Heimkehr meines Vaters zusammenfiel; in mancherlei Hinsicht glaube ich, die gesamte Klavierkarriere meines Bruders wurde um das Gebot herum drapiert, dass beim Wiederauftritt meines Vaters um 17.42 Uhr Licht und Musik herrschen mussten, dass gewissermaßen sein Leben davon abhing – allabendlich machte er einen der Sonne entgegengesetzten Übergang vom Tod zum Leben durch.
    Kein Wunder, dass ich am Gymnasium Probleme hatte, mit seinen Reihen leerer Gesichter, dem schattenlosen Licht, dem Drahtgitter vor den Fenstern und einer Reglementierung des Grundschulwesens, die im Mittleren Westen noch Gültigkeit hatte – Auswendiglernen und Wiederkäuen, Tabellen, präskriptive Grammatik und Satzdiagramme, und die einzige Dekoration war das Alphabet aus Buntpapier auf einer Korkguilloche, die über der Tafel verlief. In jedem Klassenzimmer standen dreißig Schülerpulte in fünf Sechserreihen; die Fußböden aller Klassenzimmer bestanden aus weißen Fliesen mit schwachen Wolkenmustern in Braun- und Grautönen, die aber unterbrochen waren, weil die Fliesenleger nicht auf zusammenpassende Muster geachtet hatten. In jeder Klasse hing eine von Benrus stammende Wanduhr, die keinen Sekundenzeiger hatte und deren Minutenzeiger sich in einzelnen Rucken bewegte und nicht still und gleichmäßig weiterschob; die Uhren waren mit dem Schulgong verkabelt, der fünf Minuten vor der vollen Stunde ertönte, dann wieder zur vollen Stunde sowie auf irgendwie fatalere Weise noch einmal zwei Minuten danach, was Trödlern galt und die einleitenden Bemerkungen der Lehrer störte. Die Schule roch nach Klebstoff, Gummistiefeln, säuerlichem Mensaessen, den warmen biotischen Ausdünstungen vieler Körper und dem Fixativ des Fliesenbodens, wenn dreihundert Säugetiere die Räume im Tagesverlauf langsam aufwärmten. Die meisten Lehrer waren geschlechtslose Frauen, alt (d. h. älter als meine Mutter) und streng, aber nicht lieblos, und hinzu kamen ein paar Spritzer junger Männer – im Mathematikunterricht der vierten Klasse gab es doch tatsächlich einen, der Mr Goodnature hieß –, die sich von dem vagen politischen Idealismus zum Lehrerberuf hingezogen fühlten, der sich an den Universitäten weit jenseits meines Horizonts (und von mir unbemerkt) damals gerade erst entfaltete. Die jungen Männer waren am schlimmsten, teilweise richtige Leuteschinder, deprimiert und verbittert, weil der Idealismus, der sie zu uns

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